Filmkritik zu "One Life": Der britische Oskar Schindler
Ein jüdisches Sprichwort besagt: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Die ganze Welt konnte der Brite Nicholas Winton nicht retten, aber 669 Kinder, die sonst von den Nazis getötet worden wären.
Der britische Börsenmakler war im Jahr 1938 – anstelle eines Skiurlaubs – nach Prag gereist. Dort sah er mit eigenen Augen das Elend von geflüchteten, meist jüdischen Familien. Sie alle waren vor den Nationalsozialisten in die Tschechoslowakei geflohen und lebten dort unter unmenschlichen Bedingungen in einem Lager.
Exzellentes Spiel britischer Schauspiel-Veteranen
Winton, selbst jüdischer Abstammung, erkannte die Gefahr, die ihnen von Hitler drohte. Umgehend organisierte er Transporte, die zumindest Kindern die Ausreise ermöglichte und diese nach England in Sicherheit brachten. Die Aktion wurde später als tschechischer Kindertransport bekannt und brachte Winton den Namen „britischer Schindler“ ein – in Anlehnung an Oskar Schindler, der durch Steven Spielbergs Filmhit „Schindlers Liste“ Weltruhm erlangt hatte.
Eine derartige Karriere wird James Hawes’ braves Historiendrama „One Life“ – in Anlehnung an das jüdische Sprichwort – mit Sicherheit nicht machen. Dazu ist das Kinofilmdebüt des britischen TV-Routiniers zu schematisch und zu konventionell erzählt. Dass es trotzdem starke, emotionale Sogwirkung entwickelt, verdankt es vor allem dem exzellenten Spiel britischer Schauspiel-Veteranen wie Anthony Hopkins und Helena Bonham Carter.
Unbekannter Pensionist
Hopkins spielt mit sensibler Zurückhaltung den alten Nicholas „Nicky“ Winton, der in den 1980er-Jahren als wohlhabender Pensionist ein ruhiges Leben führt, allerdings von quälenden Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg geplagt wird.
In historischen Rückblenden rekapituliert Regisseur Hawes die Ereignisse in Prag, das Leid der Kinder und die Bemühungen um deren Rettung. Das Unterfangen, Visa und Pflegefamilien zu organisieren, scheint aussichtslos. Aber der junge Winton (Johnny Flynn), gemeinsam mit seiner Mutter – resolut gespielt von Helena Bonham Carter – lässt nicht locker.
Sich selbst sieht Nicholas Winton nicht als Held, sondern als ganz „gewöhnlichen“ Menschen, der das Richtige tut. Und er glaubt daran, dass es eine „ganze Armee von gewöhnlichen Menschen“ gibt, die ebenfalls das Richtige tun wollen.
Sein Vertrauen in die Kraft der „ordinary people“ wird zum berührenden und optimistischen Appell, der sich aus der Vergangenheit direkt an unsere Gegenwart richtet. Doch selbst im England der 1980er-Jahre ahnt niemand etwas von Wintons Aktivitäten während des Krieges. Als er der Nachwelt ein Album von Fotos und Dokumenten überlassen will, interessiert sich vorerst niemand dafür. Über Umwege gerät das Erinnerungsbuch an die Moderatorin einer legendären TV-Show namens „That’s Life!“.
Der Rest ist britische Fernsehgeschichte.
Der Moment, in dem der greise Nicholas Winton ins Fernsehstudio gebeten wird und dort jene Menschen trifft, die er als Kinder gerettet hat, ist absolut herzzerreißend. Wer gleich ein zweites Mal weinen will, braucht nur auf YouTube zu gehen: Dort findet man den echten Nicholas Winton im Live-Studio von „That’s Life!“ – als Retter einer ganzen Welt.
INFO: GB 2023. 109 Min. Von James Hawes. Mit Anthony Hopkins, Helena Bonham Carter.
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