Filmkritik zu "Memory": Seiltanz der Verletzlichkeit
Der mexikanische Regisseur Michel Franco ist bekannt für seine harte Regiefaust, mit der er spekulative Gewaltexzesse oder schweres Leid auf die Schicksale seiner Figuren drückt. Umso mehr überrascht der zarte Tonfall, den er in seinem neuen, berührenden Drama anschlägt. „Memory“, „Erinnerung“, ist das, was die handelnden Personen am meisten quält: Entweder, weil sie Traumata erlebt haben, die sie erinnern beziehungsweise verdrängen; oder, weil sie an Demenz leiden und im Begriff sind, jegliche Erinnerung zu verlieren.
Sylvia kann sich noch erinnern, wenn auch manchmal nur dunkel: Sie wurde in der Vergangenheit missbraucht und kämpft als trockene Alkoholikerin damit, ihren Alltag unter Kontrolle zu halten. Beruflich ist sie als Sozialarbeiterin tätig und lebt mit ihrer Teenager-Tochter in bescheidenen Verhältnissen in Brooklyn. Saul wiederum ist an Demenz erkrankt und verliert sein Gedächtnis. Manchmal kann er sich bestens an die Vergangenheit erinnern, manchmal weiß er nicht einmal mehr, was vor fünf Minuten geschah. Deprimierende Voraussetzungen also, die aber durch das gesamte Ensemble, allen voran der beiden Hauptdarsteller, Oscarpreisträgerin Jessica Chastain und Peter Sarsgaard, zum schauspielerischen Großereignis gelingen.
Sylvia und Saul treffen einander zufällig auf einem Klassentreffen ihrer ehemaligen Highschool. Sylvia, die nur an einem Glas Wasser nippt, verlässt die Veranstaltung frühzeitig, Saul folgt ihr nach Hause, ohne genau zu wissen, warum. Es kommt zu einer Begegnung, bei der Sylvia ihn verdächtigt, zu jenen Mitschülern zu zählen, die sie als Jugendliche vergewaltigt haben. Doch daran hat Saul keine Erinnerung.
Traumata
Anfänglich bleibt in Schwebe, warum Sylvia das Angebot, Saul tagsüber zu betreuen, annimmt: Will sie sich an ihm rächen? Seinem dementen Gedächtnis auf die Sprünge helfen?
Regisseur Franco aber schlägt einen weit weniger spektakulären Erzählweg ein. Mit gewohnter Kargheit, aber viel Feingefühl, lässt er eine zarte Beziehung zwischen den beiden einsamen New Yorkern aufblühen, die von Chastain und Sarsgaard als exquisiter Seiltanz der Verletzlichkeit verkörpert werden.
Ganz kann Michel Franco seinen Hang zum krassen Konflikt aber nicht ablegen. Sylvias familiäre Traumata lauern drohend im Hintergrund, ehe sie im Streit mit der Mutter komplett eskalieren. Genussvoll lässt Franco alle Familienmitglieder in höchster Emotion aufeinanderprallen. Doch wieder veredeln die hervorragenden Darsteller ein etwas schematisches Drehbuch durch ihren Feinsinn. Vor allem ihr exzellentes Spiel wird in Erinnerung bleiben.
INFO: MEX/USA 2023. 103 Min. Von Michel Franco. Mit Jessica Chastain, Peter Sarsgaard.
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