Filmfestival Venedig: Im Schatten von Hollywood

Peter Sarsgaard und Jessica Chastain nähern sich langsam an in Michel Francos überraschend zartem Demenzdrama „Memory“
Das Filmfestival in Venedig fand heuer unter verschärften Bedingungen statt: Die amerikanischen Schauspieler und Schauspielerinnen befinden sich im Streik und haben ihre Arbeit niedergelegt. Sie fordern eine bessere Vergütung und Regeln im Umgang mit künstlicher Intelligenz.
Für Venedig bedeutete das: Hollywoods Star-Personal blieb weitgehend zu Hause. Ein leerer roter Teppich ist ganz besonders bitter für ein Festival, das sich als Startrampe für die Oscarsaison versteht und auch keine Berührungsängste mit den Prestige-Produktionen von Streamingdiensten wie Netflix hat.
Unglaublich nervös
Zum Finale des Festivals war auch Oscarpreisträgerin Jessica Chastain angereist, allerdings „unglaublich nervös“, wie sie bei der internationalen Pressekonferenz zugab. Chastain trug ein T-Shirt, dessen Aufdruck ihre Unterstützung mit dem Streik deklarierte. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Peter Sarsgaard bewarb sie das Demenzdrama „Memory“ von Michel Franco, das am letzten Programmtag im Wettbewerb gezeigt wurde.
Der mexikanische Regisseur ist bekannt für seine spekulativen Gewaltexzesse, die er mit harter Regiefaust – wie etwa in seinem Brutalo-Thriller „New Order“ – effekthascherisch durchsetzt. Umso mehr überraschte der zarte Tonfall, den er in „Memory“ anschlägt: Chastain spielt Sylvia, eine trockene Alkoholikerin und alleinerziehende Mutter, Peter Sarsgaard einen an Demenz erkrankten Mann namens Saul. Sylvia wird als Pflegerin angestellt und kümmert sich um Saul; zwischen den beiden entwickelt sich eine fragile Liebesbeziehung.
Ganz kann Michel Franco seinen Hang zum krassen Konflikt nicht ablegen. Sylvias familiäre Traumata lauern drohend im Hintergrund, ehe sie im Streit mit der Mutter komplett eskalieren. Es ist das nuancierte und sensible Spiel der hervorragenden Hauptdarsteller, das das etwas grobschlächtige Drehbuch durch Feinsinn veredelt.
Ebenfalls ein höchst sehenswertes Duett bieten
Guillaume Canet und Alba Rohrwacher in dem französischen Wettbewerbsbeitrag „Hors-Saison“ von Stéphane Brizé: Mathieu ist ein berühmter Schauspieler und in einem Wellnesshotel im Westen Frankreichs auf Erholung. Dort trifft er zufällig auf seine Ex-Geliebte, die er vor fünfzehn Jahren verlassen hat.
Im Gegensatz zu Franco lässt Brizé meisterlich reduziert die Wunden der Vergangenheit nur langsam aufbrechen, dafür umso eindringlicher nachwirken.

Małgorzata Hajewska-Krzysztofik (li.) und Joanna Kulig in dem polnischen Wettbewerbsbeitrag "Woman of“
Transgender-Drama
Gleich Zurückhaltung übt auch das leise Transgender-Drama „Woman of“ des polnischen Regie-Duos Małgorzata Szumowska und Michał Englert. Ihr verhaltenes Porträt eines verheirateten Familienvaters, der sich seit seiner Geburt als Frau identifiziert und erst langsam zu sich selbst findet, betritt heikles Terrain. In Polen ist die gleichgeschlechtliche Ehe weiterhin nicht legalisiert, die LGBTQ+-Community steht unter starkem Beschuss. Insofern verstehen sich die Regisseure als politische Aktivisten mit einer klaren Botschaft: „Polen braucht diesen Film, gerade jetzt.“
Oscarglocken läuten
Persönlich waren sie zwar nicht vor Ort, doch sie hinterließen den stärksten Eindruck: Wenn sich zwei Schauspielerinnen in Venedig für eine Oscarnominierung empfahlen, dann Emma Stone und Carey Mulligan.
Emma Stone zog in der hoch akklamierten Groteske „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos als eine Art weiblicher Frankenstein alle Register und entmachtete mit ungezügeltem Sexualtrieb die Welt der Männer.
Carey Mulligan wiederum setzt sich an der Seite von Bradley Cooper in dessen Bio-Pic „Maestro“ durch und sorgte dafür, dass Coopers Porträt des legendären Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein seinen emotionalen Anker findet.
Auch heuer stand das Filmfestival von Venedig für seine Einladungspolitik im Kreuzfeuer der Kritik. Auf besonderen Widerwillen stieß Roman Polanskis „The Palace“, eine verhunzte Farce, die praktisch einstimmig von der internationalen Filmkritik verrissen wurde. Die Platzierung seines Films im Programm erwies sich nicht nur als peinlich für die Festivalleitung, sondern entfachte erneut eine Debatte darüber, inwiefern man Männern, denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wird, eine prominente Plattform bieten sollte. Auch die Anwesenheit von Woody Allen sorgte für Protest; doch sein mechanisches Lustspiel „Coup de Chance“ konnte zumindest halbwegs unterhalten.
Ein österreichischer Film fand sich heuer nicht im Wettbewerb von Venedig, dafür aber eine österreichische Koproduktion. Der deutsche Kameramann und Regisseur Timm Kröger präsentierte seinen Noir-Fiebertraum „Die Theorie von allem“ und bestach vor allem mit stilsicheren Bildern in Schwarz-Weiß. Sein verwegener Thriller spielt Anfang der 1960er-Jahre in den Schweizer Alpen, wohin der Doktorand Johannes Leinert – intensiv gespielt von Burgschauspieler Jan Bülow – mit seinem Doktorvater (Hanns Zischler) reist und auf eine geheimnisvolle Femme fatale trifft.
Kröger – übrigens auch Kameramann des österreichischen Spielfilms „The Trouble with Being Born“ von Sandra Wollner – bedient sich gekonnt der Filmgeschichte, um mit Referenzen auf Hitchcock und Film noir eine bedrohliche Atmosphäre der deutschen Nachkriegszeit zwischen Physik und Paranoia zu erzeugen.
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