Unglaublich nervös
Zum Finale des Festivals war auch Oscarpreisträgerin Jessica Chastain angereist, allerdings „unglaublich nervös“, wie sie bei der internationalen Pressekonferenz zugab. Chastain trug ein T-Shirt, dessen Aufdruck ihre Unterstützung mit dem Streik deklarierte. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Peter Sarsgaard bewarb sie das Demenzdrama „Memory“ von Michel Franco, das am letzten Programmtag im Wettbewerb gezeigt wurde.
Der mexikanische Regisseur ist bekannt für seine spekulativen Gewaltexzesse, die er mit harter Regiefaust – wie etwa in seinem Brutalo-Thriller „New Order“ – effekthascherisch durchsetzt. Umso mehr überraschte der zarte Tonfall, den er in „Memory“ anschlägt: Chastain spielt Sylvia, eine trockene Alkoholikerin und alleinerziehende Mutter, Peter Sarsgaard einen an Demenz erkrankten Mann namens Saul. Sylvia wird als Pflegerin angestellt und kümmert sich um Saul; zwischen den beiden entwickelt sich eine fragile Liebesbeziehung.
Ganz kann Michel Franco seinen Hang zum krassen Konflikt nicht ablegen. Sylvias familiäre Traumata lauern drohend im Hintergrund, ehe sie im Streit mit der Mutter komplett eskalieren. Es ist das nuancierte und sensible Spiel der hervorragenden Hauptdarsteller, das das etwas grobschlächtige Drehbuch durch Feinsinn veredelt.
Ebenfalls ein höchst sehenswertes Duett bieten
Guillaume Canet und Alba Rohrwacher in dem französischen Wettbewerbsbeitrag „Hors-Saison“ von Stéphane Brizé: Mathieu ist ein berühmter Schauspieler und in einem Wellnesshotel im Westen Frankreichs auf Erholung. Dort trifft er zufällig auf seine Ex-Geliebte, die er vor fünfzehn Jahren verlassen hat.
Im Gegensatz zu Franco lässt Brizé meisterlich reduziert die Wunden der Vergangenheit nur langsam aufbrechen, dafür umso eindringlicher nachwirken.
Transgender-Drama
Gleich Zurückhaltung übt auch das leise Transgender-Drama „Woman of“ des polnischen Regie-Duos Małgorzata Szumowska und Michał Englert. Ihr verhaltenes Porträt eines verheirateten Familienvaters, der sich seit seiner Geburt als Frau identifiziert und erst langsam zu sich selbst findet, betritt heikles Terrain. In Polen ist die gleichgeschlechtliche Ehe weiterhin nicht legalisiert, die LGBTQ+-Community steht unter starkem Beschuss. Insofern verstehen sich die Regisseure als politische Aktivisten mit einer klaren Botschaft: „Polen braucht diesen Film, gerade jetzt.“
Oscarglocken läuten
Persönlich waren sie zwar nicht vor Ort, doch sie hinterließen den stärksten Eindruck: Wenn sich zwei Schauspielerinnen in Venedig für eine Oscarnominierung empfahlen, dann Emma Stone und Carey Mulligan.
Emma Stone zog in der hoch akklamierten Groteske „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos als eine Art weiblicher Frankenstein alle Register und entmachtete mit ungezügeltem Sexualtrieb die Welt der Männer.
Carey Mulligan wiederum setzt sich an der Seite von Bradley Cooper in dessen Bio-Pic „Maestro“ durch und sorgte dafür, dass Coopers Porträt des legendären Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein seinen emotionalen Anker findet.
Auch heuer stand das Filmfestival von Venedig für seine Einladungspolitik im Kreuzfeuer der Kritik. Auf besonderen Widerwillen stieß Roman Polanskis „The Palace“, eine verhunzte Farce, die praktisch einstimmig von der internationalen Filmkritik verrissen wurde. Die Platzierung seines Films im Programm erwies sich nicht nur als peinlich für die Festivalleitung, sondern entfachte erneut eine Debatte darüber, inwiefern man Männern, denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wird, eine prominente Plattform bieten sollte. Auch die Anwesenheit von Woody Allen sorgte für Protest; doch sein mechanisches Lustspiel „Coup de Chance“ konnte zumindest halbwegs unterhalten.
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