Filmfestival Venedig: „Das Gegenteil von Trump“
„Der Coronavirus liebt Leute wie mich“, sagte Frederick Wiseman in einer Video-Botschaft, die er dem Filmfestival in Venedig geschickt hat. Der US-Regie-Veteran wurde heuer 90 Jahre alt und hat naturgemäß auf seine Anreise an den Lido verzichtet. Er ließ sich von seinem neuen Dokumentarfilm „City Hall“ vertreten, einem Monumentalwerk von viereinhalb(!) Stunden.
„Ursprünglich hatte ich 104 Stunden an Material, doch das ist die Kurzversion“, scherzte Wiseman leutselig und fügte hinzu: „,City Hall‘ ist kein Anti-Trump-Film, aber er zeigt Leute, die das Gegenteil von Trump sind.“Das Gegenteil von Trump – das ist ein Politiker wie Martin J. Walsh, der Bürgermeister von Boston aus der Partei der Demokraten. Walsh tritt auf unzähligen Veranstaltungen auf, wo er freimütig darüber redet, dass er trockener Alkoholiker ist, seine irischen Vorfahren diskriminiert wurden und sein Vater kaum genug Geld hatte, um seine Medizin zu bezahlten. Glaubhaft präsentiert er sich als Verfechter von Multikulturalismus und Diversität; unter seiner Federführung klemmt sich die Stadtverwaltung engagiert dahinter, das Leben in Boston auch für jene erträglich zu gestalten, die nicht weiß und/oder reich sind.
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Frederick Wiseman zählt zu den herausragendsten Vertretern des US-Dokumentarismus und hat sich in seinen Arbeiten immer auf Institutionen konzentriert – egal, ob es sich um das Ballett der Pariser Oper oder die Stadtverwaltung von Boston handelt.
In langen Mitschnitten gibt er Einblicke in die Planungssitzungen der Administration und zeichnet das Porträt einer Stadt, in der über die Hälfte der Bevölkerung aus „Minderheiten“ besteht.
Ein Dokument wie „City Hall“ ist insofern im besten Sinn politisch, weil es demokratische Strukturen und deren Potenziale für ein inklusives Zusammenleben aufzeigt, zumal in einem Land, dessen Gesellschaft gerade von tiefen Rissen zerrüttet wird. Die Welt, sie lässt sich verbessern – das beweist zumindest die Stadtverwaltung von Boston.
Einen „politischen“ Film wollte offensichtlich auch Regisseurin Julia von Heinz mit ihrem Aktivismus-Drama „Und morgen die ganze Welt“ drehen. Nachdem heuer – abgesehen von der Koproduktion „Quo vadis, Aida?“ – keine österreichischen Filme liefen, fanden sich zumindest bei der deutschen Nachbarin heimische Gesichter im Kino.
Andreas Lust („Schnell ermittelt“), zum Beispiel, der seinen ersten Auftritt bei einer Fußoperation liefert: „Bist du Arzt?“, will die verletzte Studentin Luisa (Mala Emde) wissen, als sich Lust mit dem Messer nähert. „So was Ähnliches“, lautet die wenig beruhigende Antwort.
Lust spielt einen Altlinken, der einst wegen Terroranschlägen im Gefängnis saß und nun in der deutschen Einschicht eine ruhige Kugel schieben möchte. Plötzlich platzen drei junge Antifa-Aktivisten in sein beschauliches Leben und suchen Hilfe.
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Julia von Heinz verarbeitet biografische Erlebnisse und erzählt von der wohlbehüteten Luise, die in Mannheim in ein besetztes Haus zieht. Dort wollen junge Aktivisten Neonazis bekämpfen – nur über die Methoden herrscht Uneinigkeit. Luise wirft ein Auge auf ihren Mitstreiter Alfa, einen feschen Radikalen mit Boxtalent. Er plädiert dafür, Nazis zu verdreschen, und Luise ist binnen weniger Filmminuten Feuer und Flamme.
Mit flotter Handkamera sucht die Regisseurin die Näher zu ihren Protagonisten, knallt coolen HipHop-Sound in die Mischung und lässt sie vom Leben als Revolutionäre kosten. Politische Positionen – Gewalt ja, nein – werden angerissen, bleiben aber unscharf und banal, so wie letztlich auch die handelnden Personen. Der österreichische Schauspieler Noah Saveedra, 2016 als Egon Schiele im Kino, zeigt als kampflustiger Alfa Leinwandpräsenz, kann seine unterkomplexe Rolle aber auch nicht profilieren.
Wenn am Samstag das Filmfestival endet, wird sich weisen, welcher Film den Geschmack der Preisjury unter Cate Blanchett am besten traf. Einer der großen Hypes im Vorfeld – „Nomadland“ von Chloé Zhao – läuft erst am letzten Tag: Frances McDormand reist darin als Nomadin durch den Westen der USA.
Vielleicht kommt das Beste ja zum Schluss.
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