Um doch etwas Übersicht in seine Liste zu bringen, hatte sich Frémaux lustige Einteilungen überlegt, etwa wie „Die Getreuen“ – also jene Regisseure und (eklatant weniger) Regisseurinnen, die traditionell ihre neuesten Arbeiten in Cannes zeigen. Dazu zählen Wes Anderson, dessen „The French Dispatch“ (Kinostart: 15. Oktober) sicherlich im Wettbewerb gelaufen wäre, ebenso wie François Ozons Teenager-Liebesfilm „Summer 85“ oder Pete Docters Pixar Animation „Soul“ (Kinostart: 26.11.)
Unter den 56 ausgewählten Titeln auf der Liste finden sich 21 französische Titel – was für ein international ausgerichtetes Filmfestival eine sehr große Menge darstellt. Das Kalkül dahinter ist klar: Es soll der französischen Filmindustrie bei der Wiedereröffnung der Kinos eine wichtige Starthilfe bieten. Ein Film, der mit einem Cannes-Siegel versehen ist, erhält größere Aufmerksamkeit bei Publikum und Kritik.
Signifikante Filme, die ebenfalls im heurigen Programm erwartet wurden, fehlen allerdings. Manche von ihnen werden aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Premiere auf Cannes 2021 verschieben. Dazu gehören etwa Paul Verhoevens Nonnen-Drama „Benedetta“ oder Leos Carax’ „Annette“. Tatsächlich überlegen viele Produktionsfirmen, ihre Filme erst nächstes Jahr zu lancieren , um ihnen eine bestmögliche Auswertung zu bieten.
Manche Filmemacher wiederum lehnten das Cannes-Siegel ab: Sie wollen sich die Option offenhalten, auf dem ebenfalls prestigereichen Filmfestival in Venedig ihre Premiere zu feiern. Palmen-Gewinner Nanni Moretti beispielsweise wird mit seinem neuen Film „Three Floors“ am Lido erwartet – vorausgesetzt, das Festival in Venedig findet, wie derzeit fix geplant, statt. Ursprünglich gab es die Idee einer „Zusammenarbeit“ zwischen Venedig und Cannes, doch davon ist mittlerweile keine Rede mehr; dazu ist die Konkurrenz zwischen diesen beiden Festivals offenbar zu groß.
Andere sogenannte A-Festivals – darunter versteht man jene Festivals, die einen genau festgesetzten Anteil an internationalen Premieren bieten – wie etwa das spanische San Sebastián haben sich zur Kollaboration bereit erklärt. Sie werden in ihrem Wettbewerb Filme mit dem Cannes-Siegel präsentieren: „Das ist großartig, wenn Cannes-Filme im internationalen Wettbewerb von San Sebastián laufen“, findet Christine Dollhofer, Leiterin des Filmfestivals Crossing Europe in Linz und Programmdelegierte für San Sebastián: „Es wird aber sicherlich ein Gerangel zwischen verschiedenen Festivals um diese Cannes-Titel geben.“
Natürlich bemühe sich jedes Festival um sein eigenes Profil, sagt Dollhofer: „Aber in erster Linie geht es immer darum: Was ist der beste Zeitpunkt und die beste Plattform für den Start eines Films? Letztlich entscheiden die Rechteinhaber des Films, wo er gezeigt wird.“
Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Absage eines Festivals wie Cannes Auswirkungen auf kleinere Festivals wie die Viennale oder Crossing Europe haben; diese Festivals haben keinen internationalen Wettbewerb, sondern zeigen das „Best of“ eines Filmjahres.
„Auch wenn es den einen oder anderen Engpass geben mag: Generell glaube ich nicht, dass jemand ein Problem haben wird, ein Festival zusammenzustellen“, sagt Dollhofer: „Es gibt genügend Filme, die zirkulieren und auf die Einladung eines Festivals warten – auch, wenn es kein A-Festival ist.“
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