Festwochen-Chef Milo Rau: "Provokation ist doch doof!"
Es war ein doch turbulentes Ankommen: Der neue Festwochen-Intendant Milo Rau geriet vielfach in die Kritik. Künftig, sagt er dem KURIER, will er inklusiver agieren.
KURIER: In unserem ersten Interview über die Zukunft der Wiener Festwochen haben Sie gesagt, Sie wollen keine Milo-Rau-Show daraus machen. Aber es ist eine Milo-Rau-Show geworden: Sie sind omnipräsent!
Milo Rau: Das ist eine schöne Beobachtung. Denn ich möchte, dass sich die Menschen persönlich angesprochen fühlen. Ich erachte es als Ziel eines Festivals, dass man nicht einfach etwas anschaut, dann Daumen rauf oder runter – und wieder nach Hause fährt. Sondern dass man zusammen durch das Festival geht. Und das führt natürlich zu einer großen Präsenz des Gastgebers.
Sie sind ein Selbstdarsteller?
Ich lade zum Beispiel nach den Premieren ein, gemeinsam zu feiern. Ich bin ein scheuer Mensch, auf die Bühne zu steigen, das kostet mich Überwindung. Aber ich empfinde das als Akt der Höflichkeit. Es hat etwas Schönes, wenn die Menschen nach der Vorstellung über die Inhalte sprechen, zusammen feiern. Und da gibt es eben viel Spaß und Liebe, aber auch Kritik und Auseinandersetzung.
Davon gab es aber auch einiges. Die vielen herausragenden Produktionen der Festwochen sind überschattet – denn Sie bedienen nicht das breite Publikum, sondern ein eingegrenztes Spektrum.
Da haben Sie recht. Wir haben eine Öffnung begonnen, die noch viel weiter in die Breite gehen muss. Fakt ist, wir haben den schnellsten Ticketverkauf seit den letzten zehn Jahren – und etwa nach einem Drittel des Festivals schon mehr Karten verkauft als die Festwochen 2023 insgesamt. Wir sind seit Monaten Stadtgespräch. Auch international spricht man aktuell über nichts anderes in der Kunst so viel wie über die „Freie Republik Wien“. Ist doch schön!
Ja, Sie sind erfolgreich, das bestreitet niemand. Aber diese Aufmerksamkeit wurde auf dem Rücken bestimmter Gruppen generiert – jener, die nicht links sind, oder der jüdischen Mitbürger.
Ja, wir haben uns in diskursive Minenfelder begeben. Aber am Ende hat es eben immer zur Versöhnung beigetragen. Zum Beispiel haben wir das Publikum der „Rede für Europa“ des jüdischen Intellektuellen Omri Boehm mit dem ORF-Stream vertausendfacht: Es gab 100.000 Live-Zugriffe, dreihundert Mal mehr als im Jahr davor! Und der „Wiener Prozess“ gegen die FPÖ wurde in rechten Netzwerken millionenfach geteilt. Das hat mir die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry geschrieben, die als Verteidigerin fungierte. Es interessieren sich total viele für das, was wir machen. Rechts, links und vor allem in der Mitte der Gesellschaft.
Aber wir alle haben gelernt, wie Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert: Es gibt immer die Kehrseite. Als FPÖ-Wähler würde ich mich bei einer Veranstaltung, in der „meine“ Partei angeklagt wird, nicht willkommen fühlen.
Die FPÖ wurde doch freigesprochen! Ich sage jetzt nicht, dass das der Beginn einer tiefen Freundschaft war, aber wir haben uns zugehört! Und Ariel Muzicant, der uns im KURIER so scharf kritisiert hat, hat in der Folge bei den „Prozessen“ mitgemacht, Austausch trat an die Stelle des Cancelns. Diese Annäherung braucht Zeit. Wir wollen wirklich niemanden abschrecken! Aber, wie Sie richtig sagen: Wir müssen konsequent fortfahren, in alle Richtungen die Fühler auszustrecken.
Und wie?
In den Ratssitzungen der „Freien Republik Wien“ gibt es laufend Abstimmungen über Anträge. Einer davon war, jährlich eine große Produktion über die Staatsgewalt – also etwa das Heer oder die Polizei – zu machen, die in der Kunstszene ja als eher negativ gesehen wird. Oder wir hatten unlängst im Museumsquartier das Projekt mit den schlafenden Polizisten. Um eben diese Menschen, die ja von vielen als stramm und bedrohlich angesehen werden, als verletzbar zu zeigen: sanft und schutzlos. Als Menschen, die auch mal müde sind und einschlafen.
Was Sie damit geschafft haben, ist, den Chef der ÖVP Wien zu provozieren…
Naja, das war ein absichtliches Missverständnis…
Aber die Bilanz der ersten Festwochen ist trotzdem: Man hat die eine Hälfte der Gesellschaft bedient, viel von ihrem Personal eingemeindet – von Florian Scheuba bis Robert Misik. Und mit der anderen Hälfte Konflikt gespielt. Das ist ein Ungleichgewicht in der Provokation.
Ach was, Provokation ist doch doof! Das ist immer nur ein Anfang, um gemeinsam in die Tiefe zu gehen. Den Prozess gegen die FPÖ haben wir ein halbes Jahr lang mit FPÖ-Leuten vorbereitet. Wir haben nicht das Publikum verprellt, sondern ein paar Radikale, die sich sowieso gern selbst ausgrenzen, da sie sonst ihre Legitimation verlieren.
In den „Prozessen“ tun Sie etwas, was sonst nur radikale Rechtspopulisten tun: Sie zerhauen eine Säule der Demokratie, den Rechtsstaat, zum Spielmaterial. Das ist doch in einer Situation, in der der Rechtsstaat unter Druck ist, eine Entwertung von Gerichten und Urteilen.
Ich glaube, die „Prozesse“ versuchen, die Verantwortung der Zivilgesellschaft zu befragen. Im Corona-„Prozess“ haben wir die Regierung angeklagt – wie die Populisten, die immer die Regierungen anklagen. Aber als sich die Regierung verteidigt hat, ist mir etwas aufgefallen, und ich glaube, das war die Erfahrung von allen, die das wirklich verfolgt haben: Dass die Regierung in dieser Zeit, als die Demokratie insgesamt ins Wanken kam, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Hat damals nicht eher die Zivilgesellschaft versagt? Wir waren unsolidarisch, wir haben uns gespalten, wir haben den rationalen Diskurs weggeschmissen. Die Macht ist beim Volk – und die müssen wir wahrnehmen! Wir können nicht weiterhin nur Protestwähler sein und uns untereinander spalten! Das ist, glaube ich, die pädagogische Wirkung dieses Formats. Aber vielleicht irre ich mich ja auch.
Beim letzten „Prozess“, der heute (Sonntag) am Abend mit der Urteilsverkündung endet, fragen Sie, ob die Festwochen „Fördermissbrauch“ begehen. Diesen Vorwurf erhebt doch niemand ernsthaft! Ist das nicht eine Strohmanndebatte?
Es gibt aufgrund der Kunstfreiheit keinen anderen Paragrafen, um die Festwochen anklagen zu können. Wir bringen viele Punkte hinein, über die wir in den letzten Monaten gesprochen haben: zum Beispiel den sogenannten linken Antisemitismus – und die Frage, ob die Festwochen tendenziös sind. Darf man einseitig linksliberale Ideen fördern? Das ist eine legitime Frage. Ich würde antworten: Die „Freie Republik“ ist ein fröhlicher Aufstand der Zivilgesellschaft, um die Demokratie zu beleben. Wir haben beispielsweise die gesamte FPÖ-Politiker-Elite durchgerufen, um sie in die „Prozesse“ zu integrieren. Kaum einer durfte kommen, auf Geheiß der Parteileitung.
Dass man nicht freiwillig das Krokodil spielt, ist aber auch verständlich.
Meine Ansicht ist: Wenn Menschen einander treffen, ist es ihnen nicht mehr möglich, sich als Feinde zu sehen. Kann sein, dass das eine Utopie ist. Aber sie hat sich in meiner Arbeit schon oft bewahrheitet, denn das ist der Kern des Theaters: die persönliche Begegnung.
In der Realität werden FPÖ-Wähler von den Festwochen ausgegrenzt.
Wenn wir nur den Prozess gegen die FPÖ gemacht hätten, würde ich Ihnen recht geben. Aber es gab drei: Im ersten ging es um die politische Mitte, und im letzten geht es um die Linke. Eine diskursive Umarmung in alle Richtungen. Es stimmt, dass die „Wiener Prozesse“ auf den ersten Blick ein anklägerisches Format sind, aus dem dann aber Neues, Gemeinsames entstehen kann. Die Spaltung der Gesellschaft, zu der die FPÖ und auch andere Parteien beitragen, steuert nichts zu einer Lösung der Probleme bei.
Apropos „Fördermissbrauch“: In Teilen der SPÖ will man die Festwochen kritisch „nachbesprechen“. Wie sehen Sie dem entgegen?
Mit Freude! Wir sind eine städtische Organisation, warum sollten die städtischen Parteien uns nicht zur Rechenschaft ziehen? Das wäre ja grotesk. Wir fordern das mit aller Kraft ein! Wenn sie nicht auf uns reagieren würden, würde ich mir denken: Was zum Teufel ist los mit der Öffentlichkeit?
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