Apropos Raum: Der künftige Festwochen-Chef Milo Rau hat mir kürzlich gesagt: Wenn er in Burgtheater oder Staatsoper die Stiegen hochgeht, fühlt man sich "vernichtet", "wie ein Wurm". Man kann es verstehen, oder?
Es wird völlig unterschätzt, wie sehr diese Architektur immer noch eine imprimierende Wirkung hat – ich würde sogar sagen, mehr denn je, bei den Schichten, die angesprochen werden sollen. Ich liebe diese Häuser. Aber man muss sich bewusst sein: Das ist ein Vorteil für eine ganz, ganz kleine Klientel – die ewig gleiche, die sieht das als Prestigeobjekt. Für alle anderen muss Theater geöffnet, erklärt werden – und da ist so eine Architektur tatsächlich ein Nachteil.
Nach der Pandemie gab es bei vielen Bühnen ein Problem mit zögerlichem Besucherinteresse, das sich nur langsam auflöst.
Mich hat das überhaupt nicht gewundert, dass die Menschen nach der Pandemie nicht in Scharen zurückgekommen sind. Vor allen ins Sprechtheater. Denn dieses Unbehagen an der Kultur war schon länger spürbar. Das hat nicht nur mit Corona zu tun. Wenn sich das Theater dermaßen am Publikum vorbeilaviert, die Formel aufstellt, dass eine Geschichte zu erzählen retro ist - das ist eine so alberne Formel. Wenn man mit einem Publikum arbeiten will, dann geht das nicht. Und das war bei uns wirklich absehbar. Corona war da nur die Amarenakirsche auf der Sahnehaube.
Aber ewig klassisches Theater machen kann man doch auch nicht, es muss sich doch weiterentwickeln, oder?
Die Zerschlagung, die schöpferische Zerstörung ist auch ein Impuls – und oft ein sehr kreativer. Aber der riesige Bereich des Interessanten bewegt sich dazwischen. Damit meine ich keinen seichten Mittelweg. Wir haben so viele Möglichkeiten, neue Stücke zu schreiben, in neuen Formen, dafür neue darstellerische Möglichkeiten zu finden, zwischen Film, Bühne, Tanz zu arbeiten. Ich weiß überhaupt nicht, woher dieses alberne Dogma gekommen ist, dass es da ein Entweder-Oder gibt. Ich sitze zwischen den Stühlen. Und mit mir sitzen da 90 Prozent des Publikums (lacht).
Mit Erzählen begibt man sich aber in Konkurrenz mit dem größten Medium derzeit - nämlich dem Serienfernsehen. Was kann man auf der Bühne anders machen, damit sich die Menschen eine schöne Hose und gute Schuhe anziehen und dorthin gehen, anstatt zu Hause Netflix zu schauen?
Das ist eine ganz entscheidende Frage. Film war schon lange eine Konkurrenz, auch als man noch dachte, dass Theater selbstverständlich ist. Dem Theater war aber viel bewusster, dass sein Vorteil im Unterschied liegt und nicht im Angleichen. Theater hat dem Film voraus, dass es analog ist. Die Unmittelbarkeit eines Theaterabends ist nicht einzuholen. Das beginnt bei der Sprache und geht bis in die Zehennägel: Theater ist Jetzt. Dass es überspringt, ist das eigentliche Ereignis des Theaters. Das muss mal gekonnt werden! Vieles wurde da verloren. Das Tolle am Schauspiel ist ja der mögliche Absturz. Wenn Theater gut ist, ist es raubtierhaft – und ich habe, im Gegensatz zum Film, das Gefühl: Dieses Raubtier könnte mich anspringen. Wir haben uns unheimlich viel Sorgen gemacht, wie diese Kunst aufgerüstet werden muss, was sie noch alles abdecken muss und wie sie fit gemacht werden muss, womit sie konkurrieren muss. Anstatt an dieser Übertragung, an diesem Übersprung, dieser Gefährlichkeit zu arbeiten. Das geht in den Kasematten gut, weil diese Räume sehr dicht sind.
Aber in dem Moment ist man ja schon dort. Das Problem ist doch vorher - das Theater droht, in der Aufmerksamkeitsökonomie zu verhungern. Es klingt kompliziert, ist lang, viele Stücke sind alt. Wie löst man das?
Da stimme ich komplett zu. Das ist ein riesiges Problem. Das ist die Frage, an der wir am meisten knobeln. Wir haben das Gefühl, dass wir als Ensemble bei allen anderen Fragen auf einer guten Spur sind. Aber die Frage der Aufmerksamkeit wird tatsächlich immer schwieriger. Wir können nicht in ganz Wiener Neustadt plakatieren. Am Ende hilft nur die Mundpropaganda. Das ist wahnsinnig viel Arbeit. In den Kasematten war viele, viele Jahre einfach nichts. Man fängt von unter Null an. Wir machen Community-Arbeit, haben sehr viele Diskussionsveranstaltungen. Es ist ein Ort, an dem man bleiben kann, eine Agora, wo man nicht nur ein Stück schaut und wieder fährt. Das klassische Theaterpublikum ist eigentlich immer aus Wiener Neustadt geflohen, weil nichts da war. Wenn wir sie – und die Niederösterreicher und die Wiener und die Burgenländer – überzeugen, dass die Qualität hier genauso gut ist, oder – kühn! – besser, jedenfalls anders, dann haben wir gewonnen. Das ist trotz Corona durchaus gelungen, aber wir wollen in jedem Sinne weiter gehen!
Das heurige Motto ist Gedankenfreiheit – ein wahnsinnig schönes Wort. Aber ist das nicht sehr unter Druck geraten? Da ist man schnell bei denen, die Freiheit als Querdenken interpretieren. Muss man diesen Begriff rehabilitieren?
Er hat uns genau deshalb, auf Grund dieser Ambivalenz, interessiert. Bei Schiller ist das das höchste Gut. Man muss genau hinhören, was er meint, wenn er sagt: Geben Sie Gedankenfreiheit. Das ist ganz eindeutig: Die Verunstaltung, die Regime mit ihren Gesellschaften machen, indem die Menschen gar nicht mehr frei denken dürfen. Wir reden da noch gar nicht von frei sprechen! Leider Gottes werden diese Regime derzeit nicht weniger, sondern eher mehr, wenn man in den Iran, nach Russland schaut. Die Menschen werden von Jugend auf so verzwergt, dass so etwas wie ein freier Gedanke, der opponieren könnte, gar nicht aufkommen kann. Geschweige denn eine Rede- oder Meinungsfreiheit. Selbst die Freiheit der Träume wird bereits beschnitten. Das meint Schiller, und das ist ja leider unsterblich.
Viele meinen heute mit Freiheit aber etwas anderes.
Der Begriff ist in Verruf gekommen. Durch die Umwertung der Begriffe versammelt sich nun jede ausgefranste Art der Pseudo-Freiheit, die in Wahrheit nichts anderes als eine Zurichtung ist, unter diesem Wort. Wie kann das eigentlich sein? Und ist das nicht eine g’feanzte Zurichtung der Freiheit, dass dieses Wort so desavouiert wird? Bei Orwell haben wir uns noch gefragt, wer das sein wird, der unsere Gedanken überwacht. Na, er liegt neben uns am Nachttisch – es ist das Handy. Nicht weil uns da böse Mächte infiltrieren, sondern weil wir uns ganz von selbst rastern lassen. Deswegen gibt es neben den Stücken auch Diskussionen im Salon Europa.
Knüpft hier Václav Havels „Audienz“ an?
Das ist erschütternd tagesaktuell. Ich habe das Gefühl, dass unsere Meinungslosigkeit, Haltungslosigkeit – dieses immer ein bisschen mehr ducken, ein bisschen weniger den Mund aufmachen – dazu führt, dass es so leicht wird, überhaupt jegliche Opposition abzudrehen. Das beschreibt das Stück sehr, sehr gut.
Wie gehts weiter mit dem Theater?
Wir sind in einem Übergang, an dessen Ende etwas unausweichlich Neues steht, das nicht nur positiv sein wird. Ich vermute, dass eine Zeitlang dieses labile Gleichgewicht erhalten bleibt, dass wir uns durchwursteln. Letztlich ist die Zeit reif für mutige Würfe. Sowohl in Besetzungen als auch in Spielplänen. Es wird, auch durch das alles, was auf uns einprasselt, ein viel radikaleres Aufbrechen passieren. Nicht nur, was die Kunst betrifft, die Bühne. Am Ende ist das quantitativ vielleicht geschrumpft, qualitativ aber tatsächlich gewachsen. Es wird eine tatsächlich an die Wurzel gehende Kunst übrig bleiben. Das haben Krisen immer mit sich gebracht.
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