Erst Libro, jetzt Kunst: Pop-up-Galerie in der Praterstraße
Der Leerstand in der Wiener Erdgeschoßzone ist in vielen Gegenden unangenehm sichtbar. Diese toten Flächen wirken sich auch negativ auf das Grätzl, die dort (noch) wirtschaftenden Unternehmer und Bewohner aus. Denn wo kein Schaufensterlicht mehr leuchtet bzw. bespielt wird, wird es schnell düster und leblos. Das Problem ist bekannt, die Lösungen leider oft nicht durchdacht bzw. werden nicht konsequent oder professionell genug verfolgt. Das was die Stadt durchaus aktiv beeinflussen könnte, wird einfach dem Markt überlassen. Aber der regelt das nicht von alleine, denn in vielen Nebenstraßen und in wirtschaftlich unattraktiven Gegenden ohne Laufkundschaft, wird sich eine schicke Boutique wohl kaum niederlassen. Daher braucht es andere Nutzer, die die leeren Geschäftsräume füllen.
Aber auch in besseren Lagen gibt es Leerstand. Zum Beispiel in der Praterstraße 45 im zweiten Wiener Gemeindebezirk. An dieser Adresse befand sich bis März dieses Jahres eine Libro-Filiale, deren Mitarbeiter mit dem Beginn des Corona-Lockdowns die Regale ausräumten. Die rund 300 Quadratmeter im Erdgeschoß standen lange Zeit leer - bis das im selben Haus lebende Paar Stella Reinhold-Rudas und Emanuel Rudas im Lockdown die Idee einer Pop-up-Galerie kam. Da die Räume der Libro-Filiale für ihren Plan perfekt waren, hat man die Hausbesitzer, die zum Glück auch kunstaffin sind, um eine Zwischennutzung gebeten. "Sie waren von unserer Idee sofort begeistert“, freut sich Stella Reinhold-Rudas im Gespräch mit dem KURIER.
Opfer
Wo einst Buntstifte und Schulhefte in Regalen lagerten, sind seit Donnerstag Kunstwerke zu sehen. Ein Monat lang zeigt die Pop-up-Galerie die Ausstellung „Opfer ihrer Zeit“ – passend zur Corona-Krise mit ihren täglichen Opferzahlen. Die von Stella Reinhold-Rudas kuratierte Schau vereint Arbeiten, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem umfassenden Opfer-Begriff auseinandersetzen.
Im Zentrum steht dabei der große Weiblichkeits-Altar „Anti-Elektra“ von Elisabeth von Samsonow, der als Kritik an der bürgerlichen Familienkonstellation zu verstehen ist. Er „beschwört das Zeitalter des Matriarchats mit der Frau als erster Behausung des Menschen“, so die Kuratorin.
Daneben hängen Hermann Nitschs berühmt-berüchtigte Opferrituale, kleinere und größere Schüttungen des österreichischen Malers und Aktionskünstlers.
Ausgestellt sind auch Ernst Miesgangs zerbrochene Porzellan-Kitschfiguren. Seine weiter hinten im Ausstellungsraum - der Kapelle, wie Stella Reinhold-Rudas beim Rundgang erwähnt - zu sehende Arbeit „Rotting Christ“ ist ein skulpturartiges Werk, in dem der junge heimische Künstler Gratis-Zeitungen, "die wie eine Seuche das Klima im öffentlichen Raum vergiften", zu Collagen verarbeitet hat.
Im großen Raum setzt Anja Ronacher Opfergaben in Szene und untersucht "das Verhältnis von Gabe, Verausgabung und Kunst", wie es im Ausstellungstext steht. Gegenüber ist eine Fotoreihe von Günter Brus’ Aktion "Selbstverstrickung" zu sehen.
Street Art
"Opfer ihrer Zeit" ist eine bunte Mischung, die bis hin zu Street Art reicht: So sind auch die Bilder von Sebastian Schager ausgestellt, der Ikonen der Kunstgeschichte geschickt, kritisch und ironisch überarbeitet.
Die heute, Donnerstag, eröffnende Pop-up-Galerie ist ein weiterer gelungener Beitrag, Leerstand wieder zum Leben zu erwecken. Zumindest einen Monat lang. Vielleicht zieht danach ja das gefühlt 2.347 Wettbüro oder der 2.341 Ein-Euro-Laden ein ...
INFO: "Opfer ihrer Zeit"
Vernissage: 1. Oktober 2020 ab 18 Uhr. Die Ausstellung geht noch bis 31. Oktober in der Praterstraße 45, 1020 Wien. Öffnungszeiten: Mittwoch bis Samstag 12 bis 17 Uhr. Donnerstags bis 19 Uhr. Sowie nach Vereinbarung.
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