Sie war das, was man eine „höhere Tochter“ nennt: Vor dem Eintritt in die Sonderschau des Museums Gugging sind einige Fotos der Familie Blankenhorn zu sehen. Der jüngere Bruder einmal hoch zu Ross, die Frauen mit ausladenden Röcken gekleidet, im Garten oder im Salon, umgeben von Insignien des Wohlstands im späten 19. Jahrhundert.
Der Weg von Else Blankenhorn, 1873 geboren, war vorgezeichnet - sie hätte einen Adeligen heiraten sollen, erzählt die Kuratorin Ingrid von Beyme. Doch der Mann, den sie liebte, heiratete just ihre Freundin. Die Enttäuschung dürfte bei der jungen Frau einen "Knacks" ausgelöst haben. Nachdem sie 1899 ihre bis dahin gerühmte Singstimme ohne physisch nachweisbaren Grund verlor, lebte sie über Jahre in einem Sanatorium am Bodensee. Ab 1908 malte und zeichnete sie dort – und wähnte sich in einer platonischen Beziehung mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II., den sie als den „innerlichsten Menschen von allen“ bezeichnete.
Heute ist Blankenhorn der „heimliche Star“ der Sammlung Prinzhorn im deutschen Heidelberg, die wie Gugging aus einer Nervenheilanstalt hervorging und eine zentrale Institution für die Wahrnehmung jener Kunst darstellt, die man heute als „Art Brut“ oder „Outsider Art“ bezeichnet. Der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) widmete sich früh den Hervorbringungen seiner Patientinnen und Patienten und schuf mit dem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) das erste Standardwerk zum Thema, das den Surrealismus und viele andere Kunstbewegungen stark beeinflusste.
Einflussreich, aber versteckt
Blankenhorns Werk, das in Gugging nun bis zum 18. August in zuvor ungekannter Breite in Österreich vorgestellt wird, hat also kunsthistorische Bedeutung. Es aber ist auch als Zeitzeugnis unglaublich faszinierend: Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts mit all den repressiven Tendenzen, die es prägten, spricht aus den Bildern ebenso wie eine unbändige Fantasie und Erfindungsgabe, die bei aller Wahnhaftigkeit völlig eigenständig und regelhaft funktioniert.
"Art Brut" ist ein Sammelbegriff für Kunst, die außerhalb des etablierten Kunstbetriebs von Menschen ohne formelle Ausbildung geschaffen wird - manchmal, aber nicht immer handelt es sich dabei um psychisch kranke Personen. In Maria Gugging ist aus einer ehemaligen psychiatrischen Heilanstalt ein international beachtetes Zentrum für "Art Brut" geworden. Viele Künstler - von David Bowie über Arnulf Rainer bis zu Gerhard Roth - holten sich hier Inspirationen.
Zuletzt war, vermittelt von der Fördereinrichtung "Phileas", der Kurator der 60. Venedig-Biennale, Adriano Pedrosa, in Gugging zu Gast. Er wählte den Niederösterreicher Leopold Strobl für die Hauptausstellung der Kunstschau aus, die kommende Woche eröffnet. Strobl übermalt Bilder aus Zeitungen und schafft so eigentümliche Landschaften - in der Sammlungsschau in Gugging ist ihm ein eigener Raum gewidmet.
Ein Fokus der Werkschau sind dabei die Fantasiegeldscheine, die Blankenhorn – im Auftrag des Kaisers, wie sie meinte – in großer Zahl und Vielfalt herstellte. Das Vorhaben war, mit der Währung, auf der verschiedene Engel prangten, die Exhumierung von Liebespaaren zu finanzieren, die nach Blankenhorns Vorstellung gar nicht tot waren, sondern gerettet werden mussten. „Die Auferstehung bestätigt vom Reichsgericht“, vermerkte sie auf einem der „Zertifikate“, die sie bis 1919 produzierte - in welchen Zeitabständen genau, ist mangels Datierung schwer zu bestimmen, erklärt von Beyme. Nachweisbar ist nur, dass Blankenhorn sich mit Einsetzen der Inflation im Ersten Weltkrieg getrieben fühlte, stetig mehr Geld zu produzieren.
Abseits davon schuf Blankenhorn relativ großformatige Ölgemälde, symbolistische Landschaftsbilder, Porträts und religiöse Bilder. Möglich wurde das durch ihre privilegierte Herkunft, die ihr im Sanatorium „Bellevue“ ein verhältnismäßig luxuriöses Leben – mit zwei eigenen Räumen und einer eigenen Pflegerin – ermöglichte. Die Anstalt findet sich auch in Joseph Roths „Radetzkymarsch“ literarisch verewigt, der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner war 1917/’18 ebenfalls hier Patient – und ließ sich Bilder Blankenhorns vorlegen.
Die Künstlerin selbst musste 1919 aus der luxuriösen Anstalt ausziehen und erkrankte an Krebs, 1920 starb sie, 47-jährig. Für den Arzt Prinzhorn war sie eine herausragende Figur, doch in seinem Standardwerk kam sie aus Platzgründen nicht vor – eine gesonderte Aufarbeitung scheiterte. Mit einem detaillierten Katalog arbeitet die Schau, die nach Gugging noch an weitere Standorte weiterziehen soll, nun Leben und Werk Else Blankenhorns exakt auf. Viele Facetten an der Person, die es sich in ihrer Gedankenwelt so leidenschaftlich bunt und dabei so akribisch ordentlich eingerichtet hatte, bleiben dennoch ein Mysterium.
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