Sie sind für Österreich Kulturerbe, Touristenmagnet – und gleichzeitig so verstörend, dass sie immer wieder an den Sittlichkeits-Algorithmen der Sozialen Medien zerschellen oder der Zensur zum Opfer fallen: Egon Schieles Darstellungen nackter Körper regen mehr als 100 Jahre nach ihrer Entstehung auf, insbesondere dann, wenn sie junge Mädchen zeigen.
Christian Bauer, Schiele-Experte und als Kurator für das Schiele-Museum in Tulln zuständig, findet trotzdem, dass sich die Wahrnehmung in produktiver Weise verändert hat: „Es gibt nicht mehr die Polarität, wo die eine Seite sagt, dass das für die Modelle ein Befreiungsschlag gewesen sei, und die andere Seite sagt, es sei Pornografie“, erklärt er. „Ich sehe einen differenzierten Diskurs.“
Als Beitrag dazu will Bauer auch die Ausstellung „Nackt“ (bis 13. 10.) betrachtet wissen, die abseits ihrer Funktion der touristischen Attraktivierung Tullns tasächliche Raritäten für Kenner bereithält: Im Kern sind es acht Blätter aus einer anonymen Wiener Privatsammlung, die in jüngerer Vergangenheit kaum ausgestellt waren und die das Spektrum von Schieles Nacktdarstellungen vor Augen führen.
Viele Dimensionen
Auf Erregung abzielende Nacktheit findet sich bei Schiele fast nie – schon eher ist die (Selbst)Entblößung ein Offenlegen, ein Zeichen für Verletzlichkeit oder für Orientierungslosigkeit. Eine stillende Mutter mit Kind, die Schiele über Vermittlung eines befreundeten Gynäkologen 1910 porträtieren durfte, mag in eine Richtung weisen, die Nacktheit in einem natürlichen, von Scham befreiten Rahmen darzustellen suchte.
„In der Regel wissen die Frauen in Schieles Bildern, dass es einen Betrachter gibt – man sieht nicht diesen perfiden Schlüsselloch-Blick“, erklärt Bauer mit Verweis etwa auf Gustav Klimts erotische Blätter, in denen u. a. Modelle scheinbar unbeobachtet bei der Selbstbefriedigung gezeigt werden. Schieles „Zwei Mädchen in schwarzen Strümpfen“ von 1911 – in malerischer Hinsicht das stärkste Blatt der Schau – blicken dagegen unverhohlen, wenn auch mit erschöpften Augen, aus dem Bild heraus.
Doch führt kein Weg an dem Umstand herum, dass die jungen Modelle, die sich der Maler ins Studio holte, meist aus benachteiligten Umständen stammten - und keine Gelegenheit hatten, ihre Befindlichkeiten in der Situation zu äußern. Es ist daher nicht unbedeutend, dass dieser Hintergrund in der Schau offensiv thematisiert wird: „Ohne Schiele strafrechtliche Handlungen zu unterstellen, wurden während des Entstehungsvorgangs allein wegen sozialer Asymmetrien hinsichtlich Herkunft, Geschlecht und Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentliche Grenzen überschritten“, steht da im Wandtext und in den Drucksorten zu lesen.
Das Egon Schiele Museum (Donaulände , 3430 Tulln) ist bis zum 13. Oktober immer Dienstags bis Freitags (an Feiertagen auch Montags) von 10 bis 17 Uhr geöffnet. In der diesjährigen Sektion stehen mit der Ausstellung "Nackt" Aktdarstellungen aus einer Privatsammlung im Zentrum der Ausstellung im "Schatzkammer" genannten Kabinett.
Rundum lässt sich die Biografie Schieles, der 12 Jahre seines kurzen Lebens in Tulln verbrachte, entdecken. Rückgrat der Schau sind Audio-Aufnahmen der US-Forscherin Alessandra Comini, die in den 1960er Jahren die Orte von Schieles Wirken aufsuchte und Gespräche mit Zeitzeugen - u. a. seinen Schwestern - führte. Ein Abschnitt der Ausstellung ist "Erwin Osen - Egon Schieles Künstlerfreund" gewidmet. Der Künstler war 1910 ein enger Freund und Impulsgeber für Schiele. 2023 erschien ein umfassendes Buch über sein Leben.
Konkret wurde Schiele nie ein Missbrauch nachgewiesen – in dem vielfach analysierten Prozess in Neulengbach im Mai 1912 wurde er von einem dahingehenden Vorwurf freigesprochen, eine dreitägige Haftstrafe, die den Künstler stark traumatisieren sollte, fasste er wegen „Unsittlichkeit“ aus, weil Aktdarstellungen in seinem Atelier für Kinder sichtbar herumlagen. Unter welchen genauen Umständen die Anklagepunkte fallen gelassen wurden, lässt sich aber nicht mehr eruieren.
"Kein pädophiles Umfeld"
„Schiele verkehrte aber in keinem pädophilen Umfeld“, sagt Bauer, der in seinen Forschungen zu dem Künstler das Biografische stets in den Mittelpunkt stellte. Demgegenüber sei sein Zeitgenosse Oskar Kokoschka eng mit dem Architekten Adolf Loos verbunden gewesen, dessen Pädophilie erst spät, aber doch Eingang in die Geschichtsschreibung fand. Auch beim „Kaffeehausliteraten“ Peter Altenberg wurde die Pädophilie lange ignoriert, die Österreichische Nationalbibliothek erwartet sich aus neu erworbenen Beständen nun neue Erkenntnisse. Die Uneindeutigkeit in Schieles Bildern macht sie dagegen als Beweisstücke wenig brauchbar: Viel eher lassen sich die Werke als Aufruf deuten, immer wieder neue Fragen zu stellen.
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