Die 147 Zentimeter kleine Riesin

Neues Buch: "La Vie en rose" fand man 1945 zu banal – ein Liebeslied wollte keiner von der Piaf.

Der 14. Oktober 1963 war ein sonniger Tag, doch Paris trug Trauer. Tausende schwänzten die Uni, versäumten Arzttermine, sperrten ihre Geschäfte nicht auf. An diesem Vormittag wurde Édith Piaf begraben.

Das von Blumen umrandete Grabmal aus schwarzgrauem Granit, 97. Divison auf dem Friedhof Père Lachaise, ist heute noch Pilgerstätte. „Famille Gassion-Piaf“ (Gassion war der bürgerlicher Name der Piaf) steht in Goldlettern. Begraben sind mit ihr der letzte Ehemann Théo Sarapo, ihr Vater, der Schlangenmensch Louis Gassion und ihre Tochter Marcelle, die 1935 mit zweieinhalb an Gehirnhautentzündung gestorben ist.

Straßensängerin

Als Édith Piaf begraben wurde, fiel Frankreich in Staatstrauer. „Zum ersten Mal seit Kriegsende“, schreibt ihr Biograf Jens Rostock, „kam der Verkehr vollständig zum Erliegen“. Gaffer und Trauernde überall, auf den großen Plätzen, auf den Champs-Élysées. Da, wo 28 Jahre zuvor alles begonnen hatte. Wo zwei junge Straßensängerinnen ihr Glück versuchten und eine von ihnen entdeckt wurde. (Die zweite, Piafs Freundin Momone, wollte nach Piafs Tod von deren Ruhm profitieren, indem sie einen derben Wälzer mit angeblichen Original-Zitaten veröffentlichte; das Buch wurde 1969 ein Bestseller).

Die 147 Zentimeter kleine Riesin
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Bücher über Édith Piaf gibt es Dutzende. Hagiographische Schilderungen ebenso wie romantisierende Lebensberichte. Und die Autobiografie „Mein Leben“, die die bereits todkranke Chanson-Sängerin 1963 verfasste. „Es ist wahr, dass ich ein schreckliches Leben geführt habe; aber es war herrlich zugleich, weil ich es geliebt habe – ja, das Leben vor allem.“

Nur ja keine Heiligenverehrung wollte der Musikwissenschaftler Rosteck, der auch über Bob Dylan, Lotte Lenya und Kurt Weill Bücher veröffentlichte, in seiner Piaf-Biografie betreiben. Er wollte „den Menschen Édith in seiner Komplexität porträtieren, mit all seinen Brüchen und Ungereimtheiten.“ Etwa ihrem Mystizismus, dem sie ihre sparsame, exzentrische Gestik verdankte:

Als Dreijährige erkrankte Édith an einer Augenkrankheit und drohte, zu erblinden. Ihre Tanten, bei denen sie damals lebte, betrieben zwar ein Bordell, waren aber ebenso vom naiven Katholizismus beseelt wie der Rest des Dorfes Bernay, der die heilige Thérèse von Lisieux aus dem Nachbarort, ähnlich der Bernadette von Lourdes, verehrte. Die bigotten Tanten pilgerten nach Lisieux, um Édith zu heilen und brachten ihr eine Heiligenfigur mit.

Bei der Rückkehr der katholisch Beflissenen wurde dem Kind die Augenbinde abgenommen, es konnte wieder sehen, ein Wunder. Für das möglicherweise auch Salben und Tropfen verantwortlich waren. Doch Édith würde die Heilige ihr Leben lang verehren und deren Gestik – die gen Himmel gereckten Hände– übernehmen. Thérèse und Édith, beide Berufene, „jedes Konzert eine Wallfahrt“, schreibt Rosteck.

„Jedes Mal, wenn sie singt, meint man, sie risse ihre Seele zum allerletzten Mal aus dem Leib,“ sagte Jean Cocteau über sie. Ob das auch ihr Entdecker, der Varieté-Betreiber Louis Leplée, fühlte, als er 1935 zum ersten Mal die eindringliche Stimme der neunzehnjährigen Édith Giovanna Gassion hörte, die mit ihren 147 Zentimetern Körpergröße in schäbigen Kleidern auf den Champs- Élysées stand und mit dem Lied vom Spatzen, „Comme un moineau“, gegen den Verkehrslärm ansang?

Leplée erfand das Straßenmädchen neu: Nannte es „La Môme Piaf“ – das Spatzenkind („piaf“ ist ein anderer Begriff für „moineau“, Spatz) und ließ ihr ein schlichtes schwarzes Kleid schneidern. Bei kaum einem Auftritt würde sie künftig etwas anderes tragen, „sie verwuchs mit ihrem kleinen Schwarzen“, schreibt ihr Biograf Rosteck.

Pflasterschwalbe

Was sein Buch besonders macht: Rosteck beschreibt nicht nur das Leben der Piaf, sondern auch das ihrer Lieder. „La Vie en rose“, ihr berühmtestes Chanson, ist auch ihr sonnigstes. Einmal geht es nicht um traurige Pflasterschwalben vom Pigalle, sondern um ganz banale Liebe. Den Text kritzelte Piaf 1945 beiläufig auf eine Serviette in einem Café. Auch die Melodie spukte ihr im Kopf herum. Da sie keine Noten lesen konnte, brauchte sie einen Komponisten. Alle lehnten ab. Zu läppisch. Ein Liedchen von der Liebe. Erst der Chansonkomponist Louiguy ließ sich breitschlagen. 1947 wurde das Lied von den rosa Dingen zum ersten Mal auf Schellack gebrannt.

Als das schmächtige Mädchen mit der riesigen Stimme 1935 auf der Bühne des Variétés Le Gerny’s stand, muss es wohl verstörend gewirkt haben, erinnerte sich Édith Piaf an ihren ersten Auftritt. Im Publikum Chansonstar Maurice Chevalier und Komiker Fernandel. Kaum erhob sie die Stimme, hatte sie ihre Zuhörer in der Hand. Niemand sang so authentisch vom Elend der Straße wie die kleine Édith, geboren am 19. Dezember 1915 in Paris, aufgewachsen im Arbeiterviertel Belleville als Tochter eines fahrenden Akrobaten und einer Straßensängerin. Schon mit 20 vom Schicksal gezeichnet. Armut, gewalttätige Beziehungen, das Verbrecher-Milieu des Pigalle. In ihr bündelten sich die „Splitter des Leben“, schwärmte Chevalier. Von da an ging es – mit unzähligen Tiefen – aufwärts. „Padam…Padam“, „Milord“, „Non, je ne regrette rien“, „Les Trois Cloches“. Welthits.

Die Piaf förderte Charles Aznavour, Yves Montand, liebte den Radrennfahrer Louis Gérardin, den Chansonsänger Georges Moustaki. Zeit ihres Lebens hatte sie gesundheitliche Probleme. Der durch den Unfalltod ihrer großen Liebe, des Boxers Marcel Cerdan, erlittene Schock löste 1949 die chronische Arthritis aus, unter der sie fortan litt. Ende der 50er brach sie auf der Bühne zusammen: Krebs. Sie starb am 10. Oktober 1963.

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