Die etwas andere Bildung durch Trash-TV
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu stellte drei Dinge fest. Erstens, das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne. Zweitens, das Fernsehen ist getrieben von der "Diktatur der Einschaltquoten". Und drittens, deshalb wird ausschließlich skandalisiert und übertrieben. Was früher die Sensationspresse machte, tut nun jeder.
"Das Fernsehen versagt. Proleten-Guckkasten." (Jörges)
20 Jahre nach Bourdieus TV-Vortrag über die Gefahren des Fernsehens startet der deutsche Privatsender RTL zum bereits zehnten Mal seine Erfolgsshow "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!". Millionen Zuschauer werden zwei Wochen lang eine Horde Halbprominenter beobachten, wie sie sich wegen Belanglosigkeiten in die Haare kriegen, sich in Blutegeln suhlen oder zum Dessert Känguruhoden verspeisen. Statt oscarprämierter Streifen mit hochkarätigen Schauspielern und gutdurchdachten Dialogen gibt es Trash vom Allerfeinsten. Vom Bildungsfernsehen ist diese Format meilenweit entfernt, oder?
Absetzung gefordert
Wenn es um "Frauentausch", "Bauer sucht Frau" und Co. geht, wird gerne von Volksverdummung und einem schleichenden Verfall der Gesellschaft gesprochen. Dementsprechend attestierte Stern-Redakteur Hans-Ulrich Jörges vor ein paar Jahren: "Das Fernsehen versagt". Statt Informationen und Bildung bekomme man einen "Proleten-Guckkasten" vorgesetzt. Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer urteilte 2005 in einem Artikel für die Zeitschrift Forschung & Lehre ganz kategorisch: "Fernsehen macht dumm."
"Im Lästern über Format und Figuren erhöht sich der Zuseher selbst." (Kleiner)
Als das Dschungelcamp 2004 zum ersten Mal über die Bildschirme flackerte, bezeichnete der damalige Vorsitzende des deutschen Journalisten-Verbandes, Michael Konken, die Sendung als "Tiefpunkt der Fernsehunterhaltung". Das Format "kann nur als voyeuristische Perversion bezeichnet werden".
Ja, auf den ersten Blick hat "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" wirklich nicht viel mit Hochkultur gemein. Kultivierende Bildung erwartet man sich von Literatur, vom Theater oder anspruchsvollen Filmen - aber ganz bestimmt nicht vom Dschungelcamp.
Sachliche TV-Kritik
Genau wegen solcher festgelegten Erwartungen an das TV-Format scheitert die professionelle Fernsehkritik, erklärt der deutsche Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner dem KURIER. "Trash-TV funktioniert als affektiver Katalysator für die Gefühlswelten der Zuschauer. Im Lästern über Format und Figuren erhöht sich der Zuseher selbst, weil man scheinbar besser weiß, wie man zu leben, zu reden, zu lieben, sich selbst zu präsentieren hat."
"Jede Show bildet. Das gehört zu den Prinzipien des Fernsehens." (Mikos)
Trash-TV sei ein audiovisuelles Boulevardmagazin, das weder einen Bildungsauftrag hat noch haben möchte - das sei weder gut noch schlecht, so der Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der populären Künste in Berlin. Aber wer mit den immer gleichen Argumenten den Untergang des Abendlandes durch Trash-TV beschwört, sei nur "Vorsitzender im Gerichtshof der reinen Ästhetik".
Unterhaltungsfernsehen kann bilden
Auch Lothar Mikos kennt die Kritik am Format und ist über die anhaltende Stigmatisierung verärgert. "Jede Show bildet. Das gehört zu den Prinzipien des Fernsehens", meint der Professor der Fernsehwissenschaft in Potsdam-Babelsberg. Kritiker, die die Absetzung des Formats fordern, würden am klassischen Bildungsbegriff festhalten und zugleich die informelle Bildung durch Unterhaltung unterschlagen. "Wer noch immer glaubt, Unterhaltungsshows bilden nicht, zeigt nur, wie borniert er ist und wie wenig er sich mit dem Fernsehen beschäftigt", sagt Mikos zum KURIER.
Die gängige Annahme, nur Unterschichtler würden "Frauentausch" oder "Bauer sucht Frau" sehen, wurde in den vergangen Jahren wissenschaftlich widerlegt. Aber trotz Kritik und Studien hält sich "Sage mir, was du siehst, und ich sage dir, wer du bist" bis heute hartnäckig in vielen Feuilletons. Unterhaltungsformate wie "ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" seien informationslos und somit für sozial Schwächere gedacht.
"Latein oder Mathematik wird man durch das Dschungelcamp nicht lernen." (Rauter-Nestler)
Das bedeutet aber nicht, dass das Format nicht bilden kann, meint der Medienexperte Sebastian Rauter-Nestler zum KURIER. "Latein oder Mathematik wird man durch das Dschungelcamp nicht lernen. Aber diese Formate laden die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit ein." So sei es in "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" möglich, realen Menschen dabei zuzusehen, wie sie über einen längeren Zeitraum auf engem Raum auskommen müssen.
Wichtig sei aber auch, sich die Frage zu stellen: "Was passiert vor dem TV?" Setzt man sich zusammen? Zelebriert man einen Trash-Abend?" Das Dschungelcamp biete ohnehin reichlich Stoff, um darüber auch im Rahmen institutioneller Bildung, beispielsweise in der Schule, zu diskutieren, so Rauter-Nestler weiter.
Realität und Inszenierung
Viele Medienpädagogen stehen den Unterhaltungsformaten, die bei manchen Privatsendern mehr als die Hälfte des Programms ausmachen, trotz allem skeptisch gegenüber. Gerade Eltern befürchten, dass Trash-TV einen schlechten Einfluss auf ihren Nachwuchs hat. Dem widerspricht Mikos, der in einer Studie über "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" herausgefunden hat, dass Kinder und Jugendliche sehr wohl zwischen Realität und Schauspiel unterscheiden können. "Sie verstehen die Prinzpien der Inszenierung und haben Spaß daran", erklärt der Fernsehforscher.
Die Befürchtung Bourdieus mag sich vielleicht ansatzweise bewahrheitet haben: der Boulevard ist überall, niemand kann ihn aufhalten. Doch das Niveau vom sogenannten Trash-TV ist höher als gemeinhin unterstellt wird, schreibt nicht nur die Cicero-Autorin Antje Hildebrandt. Wer aus dem Dschungelcamp schlauer werden möchte, muss eben denken und Gesehenes kritisch hinterfragen. Es ist zwar nicht Goethes "Faust" oder Shakespeares "MacBeth", aber das muss es auch nicht sein.
Kommentare