"Der nackte, zerfetzte Körper lässt uns nicht mehr los"

"Der nackte, zerfetzte Körper lässt uns nicht mehr los"
Wenn die vertraute Umgebung zur Zombie-Hölle wird. Kulturwissenschaftler Marcus S. Kleiner über "The Walking Dead".

Zerfetzte Körper, Blutfontänen und eine hoffnungslose Zukunft. Die erfolgreiche Zombie-Serie "The Walking Dead" hat alles, was das Herz begehrt - oder nicht begehrt. Millionen von Menschen verfolgen Woche für Woche, wie Untote Überlebende zerfleischen und Überlebende ihresgleichen töten.

Der deutsche Medien- und Kulturwissenschaftler Marcus S. Kleiner (Webseite) hat für sein neuestes Buch "Untergangskulissen. Gesellschaft auf der Flucht" die US-amerikanische Erfolgsserie analysiert. (Erste Einblicke finden Sie im Aufsatz "Apocalypse (Not) Now?")

Herr Kleiner, während so mancher Leser mit Ekel auf menschenfressende Zombies reagiert und sich vermutlich entsetzt abwendet, schauen Sie ganz genau hin und schreiben ein Buch über 'The Walking Dead'. Warum?

Marcus S. Kleiner: Das Thema Zombie hat mich persönlich schon länger interessiert, die Geschichte, die Symbolik und Ästhetik. Als Serien-Fan hat mich 'The Walking Dead' von Anfang an begeistert.

"Der nackte, zerfetzte Körper lässt uns nicht mehr los"
Rick Grimes (Andrew Lincoln) - The Walking Dead - Season 4 _ Gallery - Photo Credit: Frank Ockenfels 3/AMC

Wieso beschäftigt sich die Wissenschaft mit dieser Serie?

'The Walking Dead' vermittelt ein konkretes wie komplexes Bild unserer Gesellschaft - aus der Perspektive der Negativität und des Endes der Gesellschaft. Zum einen wird die Absurdität der menschlichen Existenz thematisiert und zum anderen der Umgang mit Apokalypsen. Bereits bei George Romero - Vater des modernen Horrors – waren Existenzphilosophie und Gesellschaftstheorie grundlegend. Jetzt gibt es ein Seriennarrativ dazu.

Romero kritisierte in seinen Filmen (z.B.: 'Night of the living dead', 1968) soziale und politische Missstände. Ist das bei 'The Walking Dead' auch der Fall?

Ganz klar, die Serie steht metaphorisch für eine von Krisen bedrohte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die Konfrontation mit Klimakatastrophen, terroristischen Anschlägen und Epidemien ist schon lange keine Ausnahme mehr, sie gehört zum Alltag.

'They’re us' heißt es bei Romero. Ist das Projekt Gesellschaft gescheitert?

Wovon wir hier sprechen, ist eine mögliche Postdemokratie. Was bedeutet es, wenn sich Demokratien und Staatsgebilde auflösen? Die Frage ist: Gibt es Formen der Zivilisation in einer nichtzivilisierten Gesellschaft?

Wie lautet die Antwort?

In 'The Walking Dead' leben die Akteure in einer totalen Zombie-Gesellschaft, weil die Welt von Untoten und nicht von Überlebenden bestimmt wird. Die Menschen können irgendwie überleben, ihr Überleben vielleicht sichern, aber sie können - zumindest bis jetzt - nichts gegen die Herrschaft der Zombies tun.

Sie können die Zombies außer Gefecht setzen…

Was sie auch mit einem gezielten Schuss oder Stich machen. Aber wozu? Es gibt keine Ordnung mehr, auf nichts ist mehr Verlass. Wir haben es hier mit einem existenzphilosophischen Zugang zu tun. Der Mensch stößt unweigerlich an die Grenzen seines Seins, er weiß nicht mehr weiter. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers bezeichnet dies als 'Grenzsituationen'.

Es hat oft den Anschein, die Figuren wissen nicht so recht, ob sie lieber leben oder sterben wollen.

In 'The Walking Dead' geht es um die Beziehung zwischen Leben und Tod, auch in Form von Sterbehilfe.

Auf Sterbehilfe werden vermutlich die wenigsten Seher kommen.

Es dreht sich um das Thema Leben machen und sterben lassen; es geht um Gesundheit und Krankheit, Normalität und Anormalität, das Menschliche und das Monströse. Wann ist jemand dem Tode geweiht? Darf der Mensch prinzipiell alles außerhalb der Ordnung des Menschlichen immer töten, um zu überleben? Darf der Mensch andere Menschen töten, die sein Leben bedrohen, wenn die gesellschaftliche Ordnung der Wirklichkeit zusammengebrochen ist? Dies ist eines der Grundthemen der menschlichen Existenz.

Szenen aus 'The Walking Dead' erinnern sehr an den Zustand in realen Krisengebieten...

In 'The Walking Dead' herrscht der Naturzustand, der 'Krieg aller gegen alle'. Leben oder sterben? Mehr Chancen gibt es in der Post-Apokalypse anscheinend nicht.

Aber mit Verlaub, stimmt das? Die Menschen in 'The Walking Dead' versuchen auch ein normales Leben zu führen.

Sie scheitern aber jedes Mal beim Versuch, eine Gesellschaft zu reorganisieren. Sie scheitern dabei vor allem an sich selbst. Erinnern wir uns an 'Hershels Farm' in Staffel 2, an das Gefängnis und die Stadt 'Woodbury' in Staffel 3 oder an 'Alexandria' in der aktuellen 6. Staffel. Jedes Mal werden die Gruppe von Rick Grimes von Zombies überrannt und von anderen Menschen angegriffen.

Welchen Ausweg aus der Zombie-Gesellschaft gibt es dann?

Diese Frage bleibt bis zur aktuell laufenden 6. Staffel unbeantwortet. Jeder Versuch, eine dauerhafte Lösung zu finden, die auf den Grundlagen der herkömmlichen gesellschaftlichen Regeln basiert, scheitert. Eine Re-Organisation traditioneller Werte und Lebensformen reicht in der Welt von 'The Walking Dead' nicht mehr aus. Alternativen wurden bisher nicht vorgestellt. Wir können aber an einer Figur wie Rick Grimes sehen, dass er seine gesellschaftliche Funktion als Polizist - also als Ordnungshüter - zwar ablegt, und trotzdem als charismatische Führungsfigur weiterlebt.

Eine Figur mit Höhen und Tiefen.

Er wird in dieser Führungsrolle immer wieder in Frage gestellt, was dazu führt, dass er sich seine Position erneut erkämpfen muss. Auch innere Konflikte und Kämpfe gegen sich selbst können wir beobachten, ebenso wie seine charakterlichen und psychischen Veränderungen.

Müssen wir uns in einer Postdemokratie an die Art von Person orientieren, wenn wir überleben wollen? Also an eine Person, der man auch vertrauen kann?

Ja und nein. Vertrauen als Grundlage für soziale Beziehungsformen ist in der postapokalyptischen Welt von 'The Walking Dead' fast vollkommen obsolet geworden. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Jeder Mensch steht hier permanent unter Verdacht. Das erkennt man an den drei Fragen, die jedem Überlebenden von der Grimes-Gruppe zu Beginn des Aufeinandertreffens gestellt werden: 'Wie viele Zombies hast du getötet? Wie viele Menschen hast du getötet? Wieso?'

Krieg aller gegen alle
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dapd/Gene Page
TV-AMC Looks Ahead
In this image released by AMC, a zombie devours a corpse in a scene from the second season of the AMC original series, "The Walking Dead," premiering Oct. 16. The story picks up with the ragtag band of survivors fleeing zombie-overrun Atlanta and heading south for Fort Benning, Ga., 125 miles away, where they hope to find refuge at the U.S. Army post. (Foto:AMC, Gene Page/AP/dapd)

Vertrauen. Sie sprachen von Ausnahmen.

Ja, aber eine Aufnahme in die Gruppe erzeugt nicht unmittelbar Vertrauen. Nur innerhalb des Kerns der Grimes-Gruppe gibt es Vertrauen und Fürsorge, aber auch dieses Vertrauen wird häufig auf die Probe gestellt.

Kann eine Figur Vertrauen in dieser lieblosen Welt stiften?

Es gibt ja verschiedene Führungsrollen in 'The Walking Dead', neben Grimes etwa der Governor oder Hershel. Allerdings bleibt Grimes der einzige, der dauerhaft das Überleben, zumindest der Kerngruppe, sichern kann und dem das Wohl der Gruppe, die er anführt, am Herzen liegt. Der also nicht nur, wie etwa der Governor, aus egoistischen Gründen handelt.

Wenn es nur um egoistische Gründe geht, sind die Menschen dem Menschen ein Wolf?

Der Mensch ist nur noch eine Ressource, die man ausbeuten muss, um zu überleben. Die Gefahr in 'The Walking Dead' geht ganz klar ebenso stark von anderen Überlebenden aus, wie von Zombies. Unverständlich bleibt in der Serie, warum sich nicht alle Überlebenden zusammenschließen, um gemeinsam ihr Überleben zu sichern und alternative Formen von Sozialität aufzubauen. Das soziale Band des Menschlichen scheint endgültig zerrissen zu sein, das Maß des Menschlichen hingegen noch nicht ganz.

Wie viel Menschlichkeit gibt es noch in der Unmenschlichkeit?

Zunächst einmal: Es geht immer um die Begegnung mit dem Anderen (Zombies) und mit Anderen (den Überlebenden). In der Serienwelt muss jeder dem Anderen und den Anderen permanent misstrauen, weil sein Überleben von beidem gefährdet wird. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang aber, dass die Kerngruppe um Grimes immer wieder in der Lage ist, Alternativen zu dieser postapokalyptischen Welt anzubieten. Dadurch wird zumindest ein temporär produktiver Umgang mit dem Anderen und den Anderen ermöglicht, um die herkömmlichen Grundideen von Humanität, Mitgefühl und Liebe nicht ganz untergehen zu lassen.

Was sagt das über die Psyche eines Individuums aus, wenn Misstrauen zum allgegenwärtigen Begleiter wird?

In der Welt von 'The Walking Dead' ist dem Menschen alles fremd und suspekt. Die Überlebenden in der Serie sind Beispiele für den 'absurden Mensch' im Sinne von Albert Camus - also Menschen, die, nachdem die Kulissen der herkömmlichen Welt zusammengebrochen sind, nicht mehr vor der illusionslosen Auseinandersetzung mit der neuen Welt der Postapokalypse flüchten können.

Können Sie uns ein Beispiel erläutern?

Die Bewohner von 'Alexandria' in der 6. oder die von 'Hershels Farm' in der 2. Staffel sind Menschen, die vor der Anerkennung der absurden Welt in Scheinwelten flüchten und daran scheitern. Aber in der absurden Welt von 'The Walking Dead' kann man sich nicht mehr hinter Hoffnung, Glaube, Glück und Ideologie verstecken. Das ist pure Illusion. Alles Handeln muss sich aus der Auseinandersetzung mit dem Absurden entwickeln und illusionslos in die alltägliche Existenz integriert werden. Das bedeutet aber auch, das eigene Handeln an der Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschlichen zu orientieren.

Die absurde Welt klingt nach eine Dauerschleife in der Hölle.

Das ist genau der Ansatz, den 'The Walking Dead' wählt. Permanent stürzen die Kulissen der Sicherheit ein und die Absurdität des menschlichen Lebens kommt zum Vorschein. Flüchten? Ausweichen? Sinnlos. Der 'absurde Mensch' ist mit der brutalen, nackten Existenz konfrontiert - und zwar mit der Sterblichkeit. Daraus könnte sich eine Existenzphilosophie der Postapokalypse entwickeln, die aber in der Serienwelt noch aussteht.

Ist das permanente Einstürzen auch der Grund, warum die Serie so erfolgreich ist?

'The Walking Dead' zeichnet sich durch narrative Komplexität und Varianz sowie dramaturgische Brillanz und starke Charaktere aus. Sie ist die komplexeste Auseinandersetzung mit der Zombie-Thematik. Aber ohne den intimen Bezug zu den Romero-Filmen wäre das alles nicht möglich gewesen. 'The Walking Dead' übernimmt modifizierend viele Grundmotive aus den Filmen.

Ist es nicht auch die Faszination des Horrors? Gieren Menschen nicht nach dem Verbotenen?

Das ist immer ein Aspekt des Zombie-Genres. Unbedingt ästhetisch schön ist das nicht, wenn der Untote den Menschen zerpflückt. Aber die Praktik zeigt das Innere des Körpers, das, was uns im Alltag verborgen bleibt. Der nackte, zerfetzte Körper, in all seiner Drastik, lässt uns nicht mehr los. Der bedeutende Film- und Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger nennt das pointiert 'Terrorbild'. Es hat sich vom audiovisuellen Dokument losgelöst und ist zu einer Erinnerungskultur in uns geworden.

Mit genau diesen Terrorbildern bezeichnen Kritiker TV-Serien als 'sinnlose Zeitverschwendung'.

Populäre Medienkulturen sind eigensinnige Bildungskulturen. Sie machen Grundthemen von Gesellschaft, von Kulturen, vom Religiösen und Menschlichen diskutierbar. Wir bekommen durch TV-Serien ein Angebot, uns mit einem gesellschaftlichen Thema auseinanderzusetzen.

Aber nicht alle analysieren gezielt Zombie-Serien und setzen sich dann mit Sterbehilfe oder den 'absurden Menschen' auseinander.

Ok, wenn jemand sagt, ‘'Hey, ich bin Zombie-Fan, weil ich auf Splatter stehe', dann hat das wenig mit einem Bildungsprozess zu tun. Das ist ästhetischer Genuss und in dieser Form genau so legitim, wie die reflexive Auseinandersetzung mit diesem Thema. Der Mehrwert besteht darin, wenn Medienerfahrungen und Lebenswelten miteinander verbunden werden. Jeder Zuseher, der sich auf die Erzählung einlässt, kann herausarbeiten, welche Aspekte für ihn relevant sind.

"Der nackte, zerfetzte Körper lässt uns nicht mehr los"

Zur Person: Marcus S. Kleiner ist Medien- und Kulturwissenschaftler. Zu seinen Forschungsgebiete gehören unter anderem populäre Medien und Medienkulturen. In seinem neuesten Werk untersucht Kleiner anhand von "The Walking Dead" die performative Produktion, (Re)Konstruktion und Dekonstruktion von Sozialität in einer nichtzivilisierten Gesellschaft.

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