Documenta: Die Kunst als Stolperstein

Documenta: Die Kunst als Stolperstein
Revolutionäre Kuscheltiere, Gartenhäuschen und viel Geschichte: Die wichtigste Schau für Gegenwartskunst in Kassel überrascht und überzeugt.

Die Steine, sie können also doch sprechen. Ihr Gemurmel dringt durch die vielen Hallen, Häuser und Hütten der Documenta in Kassel, und auch die tendenziell skeptischen Menschen, die die weltweit wichtigste Gegenwartskunst-Schau besuchen, müssen zugeben: So abgedreht waren die vorab viel belächelten Gedanken der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev wohl doch nicht.

Die Italo-Amerikanerin hat schlichtweg auf Kunst gesetzt, in der Materialien und Dinge Geschichten erzählen; sie hat Künstler eingeladen, die mit bedeutungsgeladenen Dingen virtuos hantieren, die mal Archivare, mal Märchenerzähler und dann wieder alles zusammen sind. Was in der Sprache der Kuratorin verschraubt und etwas abgehoben klingt, ergibt schließlich eine ästhetisch überzeugende, durchaus schlüssige Ausstellung, die gar nicht theorieschwer, wohl aber politisch prononciert und äußerst geschichtsbewusst ist.

Großer Brocken

Documenta: Die Kunst als Stolperstein

Den größten und vielleicht auch aussagekräftigsten Steinbrocken konnte Christov-Bakargiev allerdings nicht heranschaffen: "El Chaco", der zweitschwerste Meteorit der Welt, hätte den Platz vor dem Museum Fridericianum schmücken sollen, konnte wegen des Widerstands der lokalen Bevölkerung aber nicht aus Argentinien ausreisen.

Im ersten Raum des Hauptgebäudes Fridericianum, den Christov-Bakargiev "das Gehirn" nennt, sind dafür zahlreiche andere beredte Objekte versammelt: Etwa eine Statue, die einst in Hitlers Badezimmer stand. Flaschen, die der Maler Giorgio Morandi als Vorlagen seiner Bilder nutzte. Steinfiguren, die Jahrtausende überlebt haben, obwohl sie nur aus losen Stückchen zusammengesetzt sind. Unweit davon: Splitter der von den Taliban gesprengten Buddhastatuen von Bamiyan. Aus dem selben Material ließ der Künstler Michael Rakowitz Nachbildungen jener Bücher anfertigen, die 1943 im Bombardement Kassels verbrannten.

Dicht gesät sind also die historischen Verweise – auf frühere Documenta-Ausgaben, auf unaufgearbeitete Kapitel deutscher Geschichte, auf Zerstörungen der jüngsten Vergangenheit.

Janet Cardiff etwa lässt am Kasseler Bahnhof Video-iPods verteilen und schickt die Besucher im geführten Rundgang auf jenen Bahnsteig, wo im Dritten Reich Juden deportiert wurden.

In der Handwerkskammer, einem für Kassel typischen 50er-Jahre-Bau, erfährt man einiges über das bei Kassel gelegene ehemalige "Besserungslager" und spätere Mädchenheim Breitenau – ein für Christov-Bakargiev zentraler Referenzpunkt: Jeder geladene Künstler musste diesen Ort besuchen.

Monumente

Documenta: Die Kunst als Stolperstein

Gerade weil diese Documenta ohne monumentale Objekte auskommt, spielen Denkmäler unterschwellig eine große Rolle: Was bleibt von all den Krisen und Unsicherheiten?

Manchmal sind es geschichtsträchtige Steine, manchmal leichtere Dinge: Ausgehend von einem historischen Foto, auf dem Nazis einen Esel als "störrischen Bürger" vorführen, gestaltete die Kroatin Sanja Iveković eine Ehrengalerie, in der u. a. die Geschwister Scholl, Che Guevara und Rosa Luxemburg durch Plüschesel versinnbildlicht werden.

Dass das Alltägliche kippt, das Banale zum Stolperstein wird, gelingt bei dieser Documenta ausnehmend gut. Bei aller Bedeutungsschwere ist auch viel Leichtfüßiges zu erleben: Im Auepark, in dem gut 50 Kunstpavillons und Installationen verteilt sind, wird teils echtes Wellnessprogramm geboten.

Aktionen wie "Beziehungsyoga" von Paul Ryan oder die Mangold-Verkostung von Christian Philipp Müller kommen zwar allzu weltverbesserisch daher, anderes ist einfach erfrischend: Etwa das "Sanatorium" von Pedro Reyes, das Besucher einlädt, ihre Aggressionen an Voodoo-Puppen auszulassen. Am Ende der 100 Documenta-Tage werden auch diese leblosen Objekte einiges zu erzählen haben.

Documenta 13: Bis 16. September

Die Weltkunstschau: Die Documenta – 1955 vom Kasseler Maler Arnold Bode ins Leben gerufen – findet alle fünf Jahre statt und dauert exakt 100 Tage. Die vergangene Ausgabe hatte mehr als 750.000 Besucher.

Nummer 13: Für die aktuelle Ausgabe der Ausstellung hat die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelt. Neben Museen und Parks werden auch Kaufhäuser, Büros und Bahnhofshallen bespielt.

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