Digitale Seelenmusik von James Blake

Pressebilder
Der Popsänger liefert ein weiteres wegweisendes Album

Seelenmusik, irritiert und verstört. Hingehaucht und hingerotzt. Vollgesogen mit Melancholie.
Aber Letztere, und das ist neu, ist nicht mehr die allein bestimmende Emotion auf dem wegweisenden zweiten Album von James Blake, „Overgrown“.

Der britische Musiker, der schon mit seinem Debütalbum vor zwei Jahren zur Kultfigur der Indie-Szene wurde, verpackt in seine weltentrückten Falsettgesänge jetzt allerlei dessen, was sich innerlich so rühren kann. Und das muss nicht traurig, das kann auch durchaus anlassig sein. Gehauchter Soul. Sanfter, zaghaft umspielter, ein wenig schief angeschauter Optimismus. Auch: Sex.

Das ist umwerfendes, vielschichtiges Gefühlstheater, ganz nah verwandt dem großen Tragöden des Falsettgesangs, Antony Hegarty. Noch dazu grundiert mit eigenständig gestimmter elektronischer Musik, die zum kongenialen Gegenpart zur großen Stimme (einst wäre Blake klassischer Crooner geworden) wird: Sie liefert übermäßiger Zerbrechlichkeit (ein nicht ungefährliches Terrain für Blake) solides Unterfutter; sie bringt allzu eindeutig in Richtung „Song“ Gehendes sofort wieder ins Wanken.

Denn Lieder kann jeder. Song sei „bloß ein Wort“, sagt Blake dem Musikexpress. Er verfängt sich lieber in thematischen Seitengassen, in die er seine Melodien, seine Songfragmente zum Nachdenken schickt. Angetrieben durch aus dem Ruder geratene, basswuchtige Beats, entwickeln sich so minimale, intime Fragmente zu ganz großen Gefühlsschinken, die sanft, aber erbarmungslos zugreifen, dort nämlich, wo es wehtut. Elektronischer Blues, mit Rhythmus.

„Speculate what we feel“, spekulieren darüber, was wir fühlen, singt Blake, und um diesen Punkt dreht sich das ganze Album: Es ist eine Zeitlupen-Tour durch eine entfremdete Gefühlswelt. Und man muss gut aufpassen, um hier nicht kindische Allgemeinplätze über Einsamkeit in einer digitalen Welt oder etwas ähnlich Klischeehaftes über die „Generation Y“ hinzuschreiben.

Auf seinem zweiten Album lässt der Brite zunehmend seine Dubstep-Wurzeln hinter sich, überrascht mit erstaunlichen Kooperationen (etwa mit Rapper RZA vom Wu-Tang Clan). Und Cowbells.

Neuer Horizont

Zugänglicher ist es auch geworden, die Melodien sind kompakter, für Blake-Verhältnisse zusammenhängender. Der Blick über den Rand der Indieszene hinaus in Richtung großes Publikum ist natürlich heikel. Aber in den tiefen Furchen und dunkeln Ecken dieses Albums bleibt genug Indie-Glaubwürdigkeit über. Es ist eines der abenteuerlichsten Alben des noch recht jungen Jahres. Und wird an dessen Ende wohl eines der wichtigsten gewesen sein.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Kommentare