Dieser Mozart geht unter die Haut

Pamina mit Männern, die bei Feuerunfällen verletzt wurden
Opernkritik: Eine zutiefst berührende „Zauberflöte“ in der Regie von Romeo Castellucci an der Oper in Brüssel.

Ja, es gibt sie im internationalen Opernbetrieb: Produktionen, bei denen sich die traditionellen (und in Wien so beliebten) Fragen nicht stellen. Gut gesungen? Schön musiziert? Werkgetreu umgesetzt? All das spielt in diesem konkreten Fall keine Rolle. Hier geht es um nichts weniger als um Leben. Um das Leben der Menschen auf der Bühne. Und darum, wie Musiktheater auch die Sicht der Besucher auf das Leben verändern kann. So oft ertönt der Ruf nach mehr Relevanz für diese alte Kunstform. Diesfalls wird er nicht nur gehört, sondern eingelöst.

Der Top-Regisseur

Verantwortlich dafür ist Romeo Castellucci, der mit seiner „Salome“-Interpretation für den größten Erfolg der Salzburger Festspiele 2018 gesorgt hatte. Nun inszenierte er in Brüssel, an dem von Peter De Caluwe so innovativ geleiteten Monnaie-Theater, Mozarts „Zauberflöte“. Also jenes Werk, das in der Zirkus-Ästhetik von Lydia Steier zuletzt zum Salzburger Flop geworden war.

Streng genommen inszeniert Castellucci nicht „Die Zauberflöte“, sondern nur Teile daraus, spielt mit unseren Erwartungshaltungen und überprüft das so komplexe und kaum auf die Bühne zu bringende Werk auf inhaltliche Relevanz. Was er dabei zu Tage fördert, ist weit weg von Freimaurer-Symbolen und dem Märchen-Topos, dafür zutiefst berührend, einzigartig in der Aufführungsgeschichte und geht unter die Haut – eine Formulierung, die angesichts von Castelluccis sensiblem, nie voyeuristischem Umgang damit (siehe unten) wohl angemessen scheint.

Den ersten Teil lässt er, ohne Dialoge, aber mit der bekannten musikalischen Abfolge, hinter einem durchsichtigen Vorhang spielen, der die Szene verschleiert, ähnlich wie bei seiner „Moses und Aron“-Inszenierung in Paris. Die Sängerinnen und Sänger tragen historische Kostüme, allesamt weiß, man wird fast geblendet von dieser monochromen Optik ohne jeden Kontrast. Die Protagonisten sind pantomimisch gedoppelt, sodass es, wie bei Scherenschnitten, eine strenge Symmetrie auf der Bühne gibt. Die poetische, ästhetische Umsetzung erinnert an ein Glockenspiel mit leblosen Figuren und hat wohl auch die Funktion einer Katharsis, einer Reinigung von „Zauberflöten“-Klischees.

Im zweiten Aufzug, mit einigen musikalischen Umstellungen, zeigt Castellucci einen gefängnis- oder sanatoriumartigen Raum, ebenfalls ohne Kontraste. Die Personen tragen nach diesem harten Bruch keine historischen Kostüme mehr, sondern Uniformen. Und im Zentrum stehen fünf (tatsächlich) blinde Frauen und fünf (tatsächlich) bei Feuerunfällen schwer verletzte Männer. Sie erzählen – anstelle der Schikaneder-Texte – ihre Geschichten. Diese hören sich tragisch an, zeigen aber auch, wie die blinden Frauen ihr eigenes Lichtsystem entwickelten. Und wie die verbrannten Männer durch das Feuer als Individuen quasi neu geboren wurden.

In der Feuerprüfung finden diese Paare zueinander – das ist die denkbar berührendste Auseinandersetzung mit Licht und Feuer, den zentralen Themen der „Zauberflöte“. Und es erinnert an Castelluccis „Orfeo“ mit der Einbeziehung einer Wachkoma-Patientin, ebenfalls in Brüssel entwickelt.

Der beste Sänger

Der einzige Sänger, der auch eine Erzählerrolle hat, ist Papageno, der in einem Monolog am Schluss seine Wertvorstellungen (Kinder mit Papagena etc.) in Frage stellt, die barocken Figuren verwirft und seine neuen Freunde umarmt. All das kann man nun mögen oder auch nicht – man kann sich dem jedoch kaum entziehen.

Gesungen wird auch, am besten von Georg Nigl als exzellentem Papageno, mit wienerischem Idiom, der sich dem Konzept streng unterwirft. Ein großer Singschauspieler. Gabor Bretz fehlt es an Kraft und Tiefe für den Sarastro, Ed Lyon ist ein seriöser Tamino, Sophie Karthäuser eine Pamina mit Luft nach oben, Sabine Devieilhe eine höhensichere, aber eindimensionale Königin der Nacht, Dietrich Henschel ein famoser Sprecher, Elena Galitskaya eine solide Papagena.

Das Orchester unter Dirigent Antonello Manacorda spielt kraftvoll, dynamisch differenziert und temporeich, aber nicht sehr farbenprächtig und präzise. Das Premierenpublikum bejubelte eine Produktion, die in dieser Form an wenigen anderen Orten möglich wäre. Und die sich traditionellen Wertungen entzieht.

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