Die Wiener haben wenig Seele

Ansicht der Stadt Salzburg von 1791 (Radierung von Anton Amon nach einer Zeichnung von August Franz Heinrich Naumann).
Ein Reisetagebuch aus dem Jahr 1783 zeigt Städteporträts in der Zeit der Aufklärung.

Die Wiener Gastlichkeit soll schon vor 230 Jahren ihre Tücken gehabt haben: „London ausgenommen, lieber Bruder, ist gewiss keine große Stadt so schlecht mit Gasthäusern versehen als Wien. Die wenigen Stunden, die ich nun hier bin, habe ich fast bloß mit Fluchen verbracht,“ heißt es wenig schmeichelhaft in einem Reiseführer aus dem Jahr 1783.

Die Wiener haben wenig Seele
Widmung: DediÈe ? son Altesse Monseigneur Vincens Joseph Francois Prince de Schrattenbach, Prince du St. Empire Romain, et Grand PrevÙt de l'Eglise Metropolitaine de Salzburg
Schmutzige Kellner, finstere Kämmerlein, schlechte Betten fand der Autor vor. Zu exorbitanten Preisen! Die Art zu speisen sei traurig, weil jeder wortlos in seiner Ecke sitze. „Wie verschieden von Paris!“

Nachzulesen ist alles über Wiener Grantler und Münchner Modemuffel in einem Buch, das 1783 ein europäischer Bestseller war: „Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris“ – ein anonym verfasster Reiseführer. Nur der angebliche Übersetzer vermerkte seine Initialen auf dem Titelblatt: K. R.

Als solcher verfasste er auch ein Vorwort, in dem er behauptet: „Der Verfasser dieser Briefe ist der Bruder meines Freundes. (...)Ich benutze diese Gelegenheit, um dir, lieber Landsmann, oder noch liebere Landsmännin, diese Briefe noch früher in die Hände zu spielen, als sie das französische Publikum zu sehen bekommt.“

(So formulierte man vermeintliche Sensationsnachrichten vor 230 Jahren, heute würde man wohl schreiben: „Der KURIER berichtete als erstes Medium.“)

Temperament

Hinter dem famosen Reisetagebuch steckte allerdings kein reisender Franzose, sondern ein – zunächst nicht ganz freiwillig – reisender Deutscher: Johann Kaspar Riesbeck, geboren 1754 in Höchst am Main als Sohn eines Schnupftuchfabrikanten. Die vorgesehene Verwaltungslaufbahn durfte er nicht einschlagen: Seine „Temperamentshitze“ machte ihm einen Strich durch die Rechnung – konkret soll er in eine Schlägerei verwickelt gewesen sein. Er musste Mainz fluchtartig verlassen. Der Hitzkopf begann ein Wanderleben als Übersetzer und Schauspieler. Er lebte in Wien und in Salzburg und reiste durchs vorrevolutionäre Deutschland.

Seine erste Anstellung erhielt er – möglicherweise vermittelt von Goethe – als Redakteur bei der eben gegründeten Zürcher Zeitung. Das Engagement war nach zwei Jahren beendet: Weil Riesbeck seine Spottgelüste nicht im Zaum halten konnte, hagelte es Leserproteste, denen seine Kündigung folgte.

Nach Aarau ging er, wo er bald mit nur 32 Jahren an Tuberkulose starb. Zuvor schloss er sein Manuskript ab.

Die Briefe über seine Reisen von Stuttgart über Augsburg, München, Salzburg, Wien, Prag, Dresden und schließlich Hamburg wurden ein Bestseller. Binnen kürzester Zeit wurde der „Reisende Franzose“ zu einem geflügelten Wort. Auch Goethe nahm den Begriff auf.

Was den Erfolg des Buches ausmacht?

Riesbeck wählte schon früh journalistische Vorgangsweisen, die heute als selbstverständlich gelten. Zwischen differenzierte Stadtporträts und plastische Landschaftsschilderungen streute er lockere Reportagen und Feuilletons, recherchierte alles vor Ort und sparte nicht mit beißender Ironie, aber auch nicht mit Lob für einzelne Landesfürsten. Über München lästert er: „Die Weibsleute gehören im Durchschnitt zu den schönsten der Welt“ – auch wenn sie „gerne etwas dick ins Fleisch fallen“.

Fleisch

Freundliche Worte findet er über die Linzer „Frauenzimmer“, die mit „guten Manieren, der Lektüre und den gesellschaftlichen Situationen viel besser bekannt sind als die Bayrinnen und Schwäbinnen, die aber an Fleisch reichlich ersetzen, was ihnen an Geist gebricht.“

In Wien stellt der Autor ein „buntes Gewimmel“ fest: Türken, Serben, Ungarn, Kroaten „durchkreuzen den dicken Schwarm der Eingeborenen, der sich in unglaublicher Stille durch die Straßen drängt. Entweder man weiß hier nichts zu reden, oder man scheut sich, laut zureden.“ Harsches Urteil: „Die Wiener haben wenig Seele“.

Die Wiener haben wenig Seele
Abseits von Schalk und Ironie hat der Autor eine politische Botschaft – in der auch der Grund für sein angebliches Franzosentum liegt (er behauptet sogar, er könne sich nicht an die „wiehernde deutsche Sprache gewöhnen“): Er war ein flammender Verteidiger der Aufklärung, deren Geist sich allerdings noch nicht überall verbreitet hatte.

Dass er sich kein Blatt vor den Mund nahm – Heiligenbildchen nannte er „abergläubischen Unsinn“ –, nahmen ihm viele übel.

Vom Erfolg seines Buchs blieb nicht viel übrig. Nach 1900 war Riesbeck aus dem Kanon des deutschen Bildungsbürgertums verschwunden. Hans Sarkowicz und Heiner Boehncke („Grimmelshausen“) haben Riesbecks Reiseführer nun wieder ausgegraben und mit mit zeitgenössischen Abbildungen aus Archiven in Deutschland und Österreich versehen.

INFO: Johann Kaspar Riesbeck: „Briefe eines reisenden Franzosen“Die AndereBibliothek.500 Seiten. 81,30 Euro.

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