Nach ein bisschen Schauspielerklamauk wird der berühmte Einstiegssatz das erste Mal dargeboten: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt” als A-cappella-Chor. Die Auftaktworte aus "Die Verwandlung" werden für die 90-minütige Inszenierung zum Refrain, werden später rezitiert, gekrächzt und in der Mitte abgebrochen.
Vorerst aber geht einmal die vierte Wand zu Samsas Zimmer hoch. Da muss man kurz ganz stark sein - natürlich sitzt Paulina Alpen als Gregor Samsa nicht als Käfer, Schabe oder anderes Kriechgetier im Bett, sondern als Beunruhigte, der der eigene Körper fremd geworden ist: Zwischen überdimensionalen Sakkoschultern verschwindet der Kopf, die Gelenke machen komische Geräusche bei jeder Bewegung und der Raum ist so verzogen, dass Samsa von Wand zu Wand und letztlich übers ganze Bett purzelt. Gregor Samsa ist hier wie dieses Alien aus "Men in Black", das sich eine Menschenhaut überzieht: Das passt nicht ganz, da zwickt's.
Die Szenerie ist eingetaucht in Ernst-Ludwig-Kirchner-Farben, die Samsa'sche Wohnung ist ein aufgeklappes Bild aus dem deutschen Expressionismus (Bühne: Pia Maria Mackert, Kostüme: Victoria Behr).
Die innere Verschobenheit der Hauptfigur schlägt sich durch aufs Äußere, der Raum wird später viel zu klein, dann ist die Wand der Boden, und letztendlich fahren die Wände in der Gegend rum.
Als Käfer kann man kein Geld verdienen, und das ist es, was die Familie Samsa letztlich wirklich ekelt, nicht das Ungeziefer, das da im Zimmer rumsitzt. Der Reihe nach kommen Mutter (Dorothee Hartinger), Vater (Philipp Hauß) und Schwester (Stefanie Dvorak) ins Zimmer - und fliehen wieder. Sie berauben Gregor seiner Handlungsmacht (er wird zuweilen zur Puppe, die von den anderen gesteuert wird), und planen hinterrücks erst seine Verstoßung, dann seinen Tod. Naja, Familie halt.
Wer vom Schauspielerquartett nicht gerade - mit überdimensionalen Köpfen und Kostümschichten - mit Gregor im Zimmer agiert, steht mit schwarz an den Kopf geklebten Haaren an der Vorderbühne, gleichsam als Chor zu den Ereignissen.
Dort findet sich auch der Autor selbst, der genauso aussieht und sich quasi selbst in verschiedenen Versuchsanordnungen als Familie Samsa hineinschreibt: Jonas Hackmann als Franz Kafka ist jener, der Samsa immer wieder in die Ungezieferrolle hineinholt. Was ja auch strukturell übergriffig ist - was heißt hier schon Ungeziefer, das ist doch auch nur eine Funktionszuschreibung, könnte man identitätspolitisch aufgerüstet dagegenhalten.
Samsa aber kann sich nicht erwehren - und wird immer weiter aus dem gesellschaftlichen Zusammenhalt hinausgetragen, versucht, auf seiner Schwester zu landen (ja, genau so wie man sich das vorstellt), muss dauernd irgendwelche Äpfel verschlingen und landet letztendlich unter einem riesengroßen Endgegner-Apfel, der ihn zur Strecke bringt.
Aber wir wären nicht 2024, wenn sich hier der theatrale Spieß nicht nochmal umdrehen würde: Hier kommt er dann doch noch auf die Bühne, der vorher peinlich vermiedene textgetreue Käfer (also doch!). Und Samsa lässt Kafka am Schluss seine eigene Medizin schlucken - am Ende sitzt Kafka selbst in der Käferfalle, und Samsa ermächtigt sich des ikonischen Einstiegssatzes. Ätsch.
Der Abend wurde am Schluss zurecht bejubelt: Er geht nicht in die Kafkafalle eines Düsterniswettbewerbs und erspart sich jede betuliche Sozialgefügestudie. Phänomenal der Einsatz von Video; bei der ersten Einspielung rätselt man lange, wie denn das geschafft wurde: Der Vorhang geht runter, und das darauf projizierte Video zeigt weiter Samsas Raum, als ob es live weiterginge. Toll. Als Maturavorbereitung ist der Abend weniger geeignet - man spart viele Kafka-Talking-Points aus, aber das macht ja nichts, im Gegenteil. Auf Äpfel jedoch hat man danach wohl länger keine Lust.
Kommentare