Die ungehaltene Eröffnungsrede der Wiener Festwochen

Kay Sara
Die indigene Schauspielerin Kay Sara hätte heute, Samstag, die Wiener Festwochen eröffnen sollen. Auszüge aus ihrer Rede.

 

Heute, Samstag, hätte die Schauspielerin Kay Sara mit einer Rede im Burgtheater die Wiener Festwochen eröffnen sollen. Aufgrund der Corona-Krise sind die Festwochen jedoch abgesagt worden. Die Rede wurde am Vormittag allerdings auf der Festwochen-Homepage veröffentlicht und wird heute um 18 Uhr im Online-Live-Talk mit dem Theatermacher Milo Rau diskutiert.

"Ich hätte mit einem Zitat aus einem europäischen Klassiker, der Antigone des Sophokles begonnen: 'Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer als der Mensch.' Denn ich wäre direkt von unseren Proben im Amazonas zu Ihnen gekommen, einer europäisch-brasilianischen Neuinszenierung der Antigone. Ich hätte Antigone gespielt, die sich gegen den Herrscher Kreon auflehnt, der ihren Bruder nicht beerdigen will, weil er als Staatsfeind gilt", heißt es in Kay Saras Rede, die auf dem letzten Teil von Milo Raus Tragödien-Trilogie "Antigone im Amazonas" basiert, die im März Corona-bedingt abgebrochen werden musste. "Der Chor hätte aus Überlebenden eines Massakers der brasilianischen Regierung an Landlosen bestanden. Wir hätten diese neue Antigone auf einer besetzten Straße durch den Amazonas aufgeführt - jenen Wäldern, die in Flammen stehen. Es wäre kein Theaterstück gewesen, sondern eine Aktion. Kein Akt der Kunst, sondern ein Akt des Widerstands: gegen jene Staatsmacht, die den Amazonas zerstört."

"Doch das alles ist nicht geschehen. Die Straße durch den Amazonas wurde nicht besetzt, ich habe nicht die Antigone gespielt. Wir sind alle wieder verstreut über den Globus, und wir sehen uns nur noch auf Bildschirmen. Meine europäischen Freunde haben mich gefragt, wie es mir geht. Mir geht es gut. Ich befinde mich im Wald bei meinem Volk, ganz im Norden Brasiliens, am Ufer des Flusses Oiapoque. Die Natur umgibt mich, sie beschützt und nährt mich. Ich lebe im Rhythmus des Gesangs der Vögel und des Regens, und ich führe die Rituale aus, die mich in Kontakt zu meinen Vorfahren bringen. Zum ersten Mal seit 500 Jahren sind Europa und Amerika wieder voneinander getrennt."

Aufruf zum Mord

In der Folge erzählt Kay Sara vom Wüten des Coronavirus in Manaus, der Hauptstadt des Amazonas. "Die Weißen nutzen das Chaos, um noch tiefer in die Wälder einzudringen. Die Feuer werden nicht mehr gelöscht. Von wem auch? Wer den Holzfällern in die Hände fällt, wird ermordet. Und was hat Präsident Jair Bolsonaro getan? Das, was er immer getan hat: Er schüttelt die Hände seiner Unterstützer und verspottet die Toten. Er hat seine Mitarbeiter beauftragt, die indigenen Völker zu benachrichtigen, dass eine Krankheit ausgebrochen sei. Das ist ein Aufruf zum Mord an uns. Bolsonaro will den Genozid an den Indigenen, der seit 500 Jahren anhält, zu Ende bringen."

Die Europäer seien "Reden wie diese gewöhnt". "Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt." In zehn Jahren werde das Ökosystem des Amazonas kippen, "wenn wir nicht sofort handeln. Das Herz dieses Planeten wird aufhören zu schlagen." Es sei gut, dass sie nicht auf der Bühne des Burgtheaters stehe. "Denn es geht nicht mehr um Kunst, es geht nicht mehr um Theater. Unsere Tragödie findet hier und jetzt statt, in der Welt, vor unseren Augen."

In den kommenden Wochen wollen die Wiener Festwochen, dem Rhythmus des ursprünglichen Festivalprogramms folgend, täglich "Gesten" zu jedem künstlerischen Projekt veröffentlichen, die gemeinsam "eine Art Archiv eines Festivals, das nicht stattfindet", bilden sollen.

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