Irgendwo zwischen Madonnas Augenklappe und dem x-ten Lady-Gaga-Fleischkleid sind jene optischen Wegweiser abhanden gekommen, mit denen der Pop so viele Jahre lang durch den Dschungel des kulturellen Lebens durchhalf. Die Bilder vom Menschsein, vom Jungsein, vom Heutesein, die die massentauglichste Musikform zuletzt lieferte, sind auch für die Masse irrelevant geworden. Überholt vom Hip-Hop, vom Serien-TV, von Kunst und Straße.
Man durfte sich deshalb am Montagmorgen ein bisschen die Augen reiben. Denn ausgerechnet bei den Grammys, die die eigene Verstaubtheit zuletzt in einem öffentlichkeitswirksamen Skandal selbst thematisiert hatten, kehrten plötzlich Bilder vom Pop zurück, die erstaunten.
Zu verdanken sind diese gar nicht so sehr der neuen Konsenskünstlerin: Billie Eilish war die große Abräumerin der Grammy-Gala, und wer sonst? Ihre grünen Post-Post-Punk-Haare waren in den letzten Monaten rasant zur Ikone des Jahres 2019 geworden. Dass sie nun die vier Hauptkategorien – bestes Album, bester Song, beste Newcomerin, beste Aufnahme – alle einstreifte, ist so hochverdient wie gleich wieder ein bedenkliches Monopol.
Denn dass sich das Business gar so schnell und mit derartiger Wucht auf die 18-Jährige stürzt, spricht auch von Lücken, die sich anderswo aufgetan haben.
Für immer jung
Eilish hat eine wunderbare Mischung aus Jungsein und Auskennerschaft, aus teenagerhafter Düsterheit und einem Habts-mich-alle-gern-Lächeln, aus Eingängigkeit und Komplexität zusammengebraut. Darauf hat man lange gewartet. Umso schneller reicht man sie nun durch bis zum neuen Bond-Song.
Den bekamen Künstler einst erst an späteren Momenten ihrer Karriere zugesprochen. Aber bei Eilish will selbst der gute alte James ein bisschen imagetransfermäßig mitnaschen, bevor er sich wieder etwas Geschütteltes hinter die Binde kippt.
Mit Gesichtsmaske und Keith-Haring-Gewand und zwei armvoll Grammys lieferte Billie Eilish die Siegerbilder des Grammy-Abends. Und für die oft als betulich verschriene Recording Academy ist das lobenswert aktuell.
Über Anderes, weniger Konsensuales hat man sich aber wieder nicht getraut.
Tyler, the Creator spielte Spielverderber und thematisiert das gleich auf offener Bühne: Dass sein Album „Igor“ – grenzüberschreitende Avantgarde – die Hip-Hop-Kategorie gewonnen hat, das spricht dann wieder von der Orientierungslosigkeit des Business. Schwarze Musiker machen, in den Augen der Grammys, an und für sich Hip-Hop. „Warum können wir nicht einfach Pop sein?“, fragte Tyler.
Gegenbilder
Wie aktuell und sehenswert der sein kann, das zeigten andere auch: Die Meistnominierte des Abends, Lizzo, und Lil Nas X (ebenso oft nominiert wie Billie Eilish) lieferten optisch sensationelle Auftritte, mit grünem Totenkopf, Cowboyhut und wirrzackigem Bodysuit. Sie segelten scharf an musikalischen Grenzen entlang, durchbrachen optische Vereinbarungen, wie es einst der beste Pop gekonnt hat. Bei den Auszeichnungen aber wurde diese Gegenbilder unter Wert liegen gelassen.
Mut und Trauer
So mutig, wie sie aussahen, waren die Grammys also dann doch wieder nicht. Noch dazu standen sie im Zeichen der Trauer um den Basketballstar Kobe Bryant.
Und Alicia Keys, Moderatorin des Abends, sprach verklausuliert die Turbulenzen in der Grammy-Akademie der letzten Tag an, wo Vorwürfe der Belästigung, Vergewaltigung und Schiebung im Raum standen: „Es ist Zeit für Neues. Wir weisen die negative Energie, die alten Systeme zurück“, sagte sie.
Die österreichischen Nominierten – Dirigent Manfred Honeck und Lautenistin Christina Pluhar – gingen übrigens leer aus.
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