Die Erlösung bringen sizilianische Zitronen und eine wie Paula
Es schadet nicht, wenn man mit folgendem Wissen ins Buch geht: Ortheil, eben 61 geworden, verstummte als Kind. Seine vier Brüder waren einer nach dem anderen gestorben, das hatte seine Mutter sprachlos gemacht, und auch er redete nicht. Erst mit sieben, als er beim Fußballspiel den Ball wollte, sagte er plötzlich: „Gib mal her!“
Das kann man in seinem autobiografischen Roman „Die Erfindung des Lebens“ (2009) nachlesen.
„Das Kind, das nicht fragte“ ist ebenfalls ein Befreiungsschlag.
Aber ein sonnendurchfluteter, froher, glücklicher. Er geschieht in einer sizilianischen Kleinstadt namens Mandlica, in Wirklichkeit ist es Modica, die Heimat des Nobelpreisträgers Quasimodo.
Man wird seine Verse hören (naja), und immer wieder wird eine CD mit Rosa Balistreri eingelegt, der klagenden Sängerin der Armen.
Schon allein für diese Entdeckung („La tarantula“ auf YouTube!) gebührt Hanns-Josef Ortheil, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller, Dank.
Schwimmen
Man wird Zitronen riechen, Jasminblütenlikör nippen und sich freuen, dass hier Artischocken mit Marsala gekocht werden.
Und man wird sich in Paula verlieben, mit ihr im Meer schwimmen – wie Benjamin Merz aus Köln. Jetzt sind wir endlich beim neuen Romanhelden angelangt, in dem wieder der Autor, dieser elegante Plauderer, steckt. Aber diesmal ist er verwandelt.
Benjamin – an die 40 – hat vier ältere Brüder, die leben und bemuttern ihn. Aus schlechtem Gewissen.
Denn als er klein war, haben sie ihn terrorisiert und wie einen Idioten behandelt. Nie kam er zu Wort, deshalb fragte er nichts. Und schon gar nicht gab er etwas von sich und seinen Qualen preis.
Außer im Beichtstuhl.
Der Pfarrer zeigt Benjamin immerhin, wie man Gott Fragen stellt und sich selbst die Antworten gibt.
Später fand er zur Sprache zurück – insofern, dass er lernte, geschickt zu fragen und auszuhorchen. Er wurde Ethnologe.
Ausreden
Nach Sizilien reiste er, um ein Dorf zu erforschen. Als „teilnehmender Beobachter“ ist er derart gut, dass sich die Einwohner um ihn reißen. Sie wollen sich ausreden, auch die Stillsten verraten ihm ihre Sehnsüchte, schütten ihr Herz aus.
Er aber verrät nach wie vor nichts über sich. Forscher will er sein, nie Privatperson. Das ändert sich mit der ebenfalls einzelgängerischen Paula, einer der beiden deutschen Schwestern, die jene Pension führen, in der Benjamin wohnt.
Paula fragt nämlich ihn! Einfach so. Eine Frechheit. Aber endlich schafft er es zu reden, zu weinen und zu reden; und zu lieben.
Unmöglich, dieser Ortheil. Er hat schon wieder ein Happy End geschrieben.
Na gut. Soll’s ja manchmal wirklich geben.
KURIER-Wertung: **** von *****
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