Die "Abenteuerlust", möglichst viele Juden zu retten

In "Der Letzte der Ungerechten" spricht Claude Lanzmann (links) mit dem ehemaligen Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein
KURIER-Gespräch mit dem "Shoah"-Regisseur Claude Lanzmann über seinen Film "Der Letzte der Ungerechten" und Ex-Rabbiner Murmelstein.

Der Filmtitel stammt von Benjamin Murmelstein. Er selbst nannte sich – in Anlehnung an den jüdischen Roman „Der Letzte der Gerechten“ -– mit leiser Ironie „Der Letzte der Ungerechten“. Unter diesem Namen präsentierte „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann heuer in Cannes seine knapp vierstündige Doku (derzeit im Kino).

Schon 1975 war der heute 87-jährige Lanzmann nach Rom gereist, wo er Murmelstein eine Woche interviewte. Elf Stunden Material entstanden, in denen er den umstrittenen Murmelstein zu seiner Rolle im Holocaust befragte. Der ehemalige Wiener Rabbiner gilt als einzig Überlebender der „Judenältesten“: So nannten die Nazis abfällig jene Vorsitzende der Judenräte, die für die Umsetzung deutscher Anweisungen in den Gettos Verantwortung trugen. Murmelstein war von Dezember 1944 bis Kriegsende Judenältester von Theresienstadt. Danach saß er 18 Monate in Haft, ehe man ihn vom Verdacht der Kollaboration freisprach. Er hatte 121.000 Menschen zur Flucht verholfen.

Die "Abenteuerlust", möglichst viele Juden zu retten
epa02526851 French writer Claude Lanzmann gestures during the presentation of his autobiography 'La Liebre de la Patagonia', original title 'Le lievre de Patagonie' (The Patagonian Hare) at the Casa Sefarad in Madrid, Spain, 12 January 2011. In the book Lanzmann explains, among other things, his relation with French philosopher, writer and feminist Simone Beauvoir and with French novelist and philosopher Jean-Paul Sartre. EPA/MONDELO
„Ich war sofort von Murmelsteins Intelligenz eingenommen“, erzählt Lanzmann im KURIER-Interview: „Er erschien mir als ein äußerst kluger und durchwegs ehrlicher und couragierter Gesprächspartner.“ Tatsächlich ist Murmelsteins Brillanz verblüffend. In glasklarem Wienerisch erzählt er von seinen quälenden, oft bizarren Begegnungen mit Adolf Eichmann, dem er sieben Jahre lang unmittelbar unterstellt war. Seine unfassbaren Beschreibungen lassen den Vollzieher der „Endlösung“ in völlig neuem Licht erscheinen: „Eichmann war nicht der kleine, banale Bürokrat, den Frau Hannah Arendt erfunden hat“, schnaubt Lanzmann: „Ich glaube, dass Murmelstein ein sehr akkurates Bild von ihm liefert: Eichmann war ein Dämon, ein Teufel, der Juden absolut hasste und vernichten wollte. Er war total korrupt und zu jeder Inhumanität bereit, wenn er daraus für sich Profit schlagen konnte.“

Auch, dass Murmelstein das Wort „Abenteuerlust“ verwendet, wenn er von seinen Aufgaben spricht, kann Lanzmann nachvollziehen: „Murmelstein war damals jung und fühlte, dass er eine Mission hatte. Er wollte möglichst vielen Juden bei der Flucht helfen.“

Anderer Ton

Warum Lanzmann das Material so lange zurückhielt, und nicht für „Shoah“ verwendete, ist leicht erklärt:

„,Shoah‘ ist ein Epos, das einen tragischen Ton hat. Murmelstein aber schlägt einen Ton an, der nicht dazugepasst hätte. Er hat eine andere Perspektive auf die gleiche Geschichte. Damals konnte ich sie nicht verwenden. Und ich hatte immer vor, einmal zu diesem Material zurückzukehren.“

1925 in Paris geboren, war 1943 einer der Organisatoren der Résistance. Als Lektor an der Berliner Uni lernt er 1952 während der Berlin-Blockade Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen. 1974 begann er an seiner Holocaust-Doku „Shoah“ zu arbeiten, die ihn zwölf Jahre beschäftigte. Der Film wurde zum historischen und kinematografischen Ereignis.

Weitere Filme: „Ein Lebender geht vorbei“ (1997), „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ (2001) und „Der Karski-Bericht“ (2010).

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