Diagonale-Eröffnung: Von Morden total kalt gelassen

Karl Fischer als "Schlächter von Vilnius“: "Murer – Anatomie eines Prozesses"
Christian Froschs erschütterndes Drama "Murer – Anatomie eines Prozesses" eröffnet Filmfestival in Graz.

Gut möglich, dass das Premieren-Publikum der diesjährigen Diagonale erst einmal ordentlich schlucken muss, ehe es zum Buffet eilt. Denn der Eröffnungsfilm, der Dienstag Abend in Graz seine Uraufführung feiert und das österreichische Filmfestival eröffnet, hat es in sich.

Unglaublich packend erzählt Christian Frosch in seinem Gerichtssaal-Thriller "MurerAnatomie eines Prozesses" (Kinostart: Freitag) von einem der größten Justizskandale der Zweiten Republik. Es geht um den Großbauern Franz Murer, angesehener Lokalpolitiker der ÖVP und Mitglied des Bauernbunds, der 1963 in Graz schwerer Kriegsverbrechen angeklagt wird.

Murer gilt als der "Schlächter von Vilnius" und war zwischen 1941 und 1943 einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Litauens heutiger Hauptstadt. Die Beweislage ist erdrückend, doch der Ankläger inkompetent und das Gericht befangen. Murer wird freigesprochen. In Österreich wird gejubelt, der Rest der Welt spricht von einem Skandal.

KURIER: Ihr Film "MurerAnatomie eines Prozesses" eröffnet die Diagonale. Glauben Sie, dass sich manche Leute davon provoziert fühlen könnten?

Christian Frosch: Ich kann die Zusammensetzung des Publikums nicht einschätzen, insofern könnte es durchaus spannend werden. Aber ich bin sehr gut auf die Diskussionen vorbereitet, die kommen werden. Und ich freue mich darauf – deswegen macht man ja so einen Film.

Nicht nur Ihr Film, auch beispielsweise Ruth Beckermanns Doku "Waldheims Walzer" ist Teil des Diagonale-Programms und behandelt jüngere österreichische Geschichte.

Dass diese Filme zur gleichen Zeit entstehen, ist natürlich Zufall, zumal mein Film einen Vorlauf von fünf Jahren hatte. Damals hatte niemand mit einer ÖVP-FPÖ-Regierung gerechnet. Aber dass das Echo auf beide Filme so groß ist, hat natürlich mit der Gegenwart zu tun. So etwas ist nicht kalkulierbar. Und es passiert dir nur einmal im Leben, dass du den richtigen Film zur richtigen Zeit machst.

Inwiefern richtige Zeit?

Das merke ich an den Reaktionen. Wenn man ein historisches Thema abhandelt, gibt es zwei Möglichkeiten. Die Leute sagen, mein Gott, wie schlimm war es damals, aber jetzt hat es sich erledigt. Oder die Leute reagieren so wie jetzt: Sie haben das Gefühl, der Film sagt viel über die Gegenwart aus. Daran messe ich, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe.

Was sagt Ihr Film über die Gegenwart aus?

Ich möchte ein Beispiel vom Filmdreh bringen: Es gab eine typische Szene, wo Ursula Ofner, die die Ehefrau von Murer spielt, in Freude ausbricht, weil der Prozess zu ihren Gunsten ausgeht. Sie spielt das ganz ekstatisch, während neben ihr die jüdischen Zeugen sitzen und völlig verfallen. Nachher kommt sie zu mir und sagt: "Mein Großvater war ein SS-Mann, und da sitzen die israelischen Schauspieler, die alle eine Schoah-Erfahrung haben. Und ich spiele diese Frau, die sich freut. Ich kann diese Szene nicht noch einmal spielen." Alle bringen ihre Familiengeschichten mit: Tätergeschichten und Opfergeschichten. Man spielt etwas nach, und es wird sehr persönlich und ganz gegenwärtig. Diese Dinge sind in uns, und das sind Wunden. Das ist nicht erledigt.

Wie ist das Verhältnis von Fakten und Fiktion in Ihrem Film?

Ich wollte so nahe wie möglich am Material bleiben. Der meiste Teil der Handlung spielt sich im Gerichtssaal ab und basiert auf Protokollen. Aber diese Protokolle sind immer nur Zusammenfassungen von dem, was jemand gesagt hat, etwa: "Meine Schwester wurde erschossen." Ganz kalte Fakten, möglichst ohne Wertung. Emotionen bekommt man aus den Gerichtsakten nicht mit. Für mich war es dann hilfreich, dass es vom Auschwitz-Prozess, der dann ein Jahr später in Frankfurt stattfand, Tonprotokolle gibt. Von dort konnte ich mir den Sprachduktus der Zeugen heraus holen. Im Protokoll bekommt man nur die Fakten.

Die jüdischen Zeugen haben sehr dramatische, mitreißende Auftritte. Wie haben Sie die inszeniert?Ich bin sehr nah an der Realität geblieben. Es gibt Mitschnitte des Eichmann-Prozesses, wo erstmals jüdische Zeugen aussagten. Die habe ich mir genau angeschaut: Wie sind sie angezogen? Wie treten sie auf? Wie sprechen sie, was erzählen sie? Manche versuchten, sachlich zu bleiben, andere brechen zusammen – jeder reagiert anders auf ein Trauma.

Besonders quälend sind jene Szenen, in denen Betroffene von unfassbaren Gräueln berichten und der Verteidiger danach völlig ungerührt fragt, ob sie sich an die Farbe von Murers Hemd erinnern können.

Diagonale-Eröffnung: Von Morden total kalt gelassen
Interview mit dem Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzenten Christian Frosch am 08.03.2018 in Wien: Christian Froschs Drama "Murer - Anatomie eines Prozesses" eröffnet Filmfestival Diagonale in Graz.

Das kommt uns als Laien unglaublich vor, ist aber für Juristen eine klare Sache. Murer hatte keine Entlastungszeugen, und die einzige Chance der Anklage war es, die Zeugen unglaubwürdig zu machen und in Widersprüche zu verwickeln.

Einmal kommt eine Geliebte Murers zur Sprache. Was spielte die für eine Rolle?

Wenn man die Gerichtsprotokolle liest, ist diese Stelle mit der Geliebten eine der absurdesten Momente. Murer lässt es total kalt, wenn von den Morden die Rede ist, die er verübt hat. Aber sobald die Geliebte zur Sprache kommt, wird er nervös. Tatsächlich war es eine heikle Geschichte, denn die Verteidigung beruhte ja darauf, ihn als anständigen, gut beleumundeten Menschen darzustellen, der schon deswegen kein Mörder sein konnte. Und ab dem Moment, wo er eine Geliebte hat, ist er nicht mehr so anständig.

Es wird ganz klar in Ihrem Film, dass sowohl ÖVP wie auch SPÖ großes Interesse daran hatten, den Fall Murer möglichst unter den Teppich zu kehren.

Das Schuldurteil zu kassieren, wäre so einfach gewesen. Doch das war die große Koalition: Wir klagen eure Nazis nicht an und ihr nicht unsere. Auch in der SPÖ gab es Nazis in der Regierung.

Es gibt den Satz eines SPÖ-Politikers: "Die Wahlen gewinnt man im Gemeindebau, nicht im Café Museum." Das klingt ebenfalls sehr zeitgenössisch.

Die Debatten sind die gleichen, damals wie heute. Was will das "Volk", welchen Preis zahlt man als Realpolitiker?

Halten Sie die heute so starke Präsenz von Burschenschaftern in der Regierung für eine Konsequenz von damals?

Das glaube ich absolut. Die Ambivalenz der Realpolitik, die kurzfristig einen Plan hat und sich nicht richtig um die Vergangenheit kümmert, rächt sich. Damit werden wir noch länger kämpfen.

Warum hat man in Österreich so über Murers Freispruch gejubelt?

Der Verteidiger und Teile der Presse haben Murer als "einen von uns" präsentiert. Das heißt, es stand nicht nur Murer, sondern das Land vor Gericht. Mit ihm wurde ganz Österreich freigesprochen – da freut man sich natürlich.

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