Der mit dem Bären kämpft
Wenn Leonardo DiCaprio als "Der Rückkehrer" heuer nicht endlich seinen Oscar bekommt, gibt es keine Gerechtigkeit in dieser Welt.
Es sei der schwierigste Dreh seines Lebens gewesen, wurde DiCaprio weltweit zitiert. Man habe unter grausamen Kältebedingungen in Kanada und Argentinien gedreht. Und er, der profilierte Method Actor, hätte sogar in echte Bison-Leber gebissen, um seinen Überlebenskampf naturgetreu nachzustellen.
Und erst der Zweikampf zwischen ihm und dem Bären – der bleibt unvergesslich.
Wie der Bär plötzlich wie ein brauner Riese aus dem Hinterhalt auftaucht und sich brüllend auf DiCaprio wirft. Wie er ihn mit seiner Pratze niederstreckt, in die Schulter beißt und seinen Körper beutelt; wie er ihm die Krallen in den Rücken schlägt und das Fleisch zerfetzt – so etwas Drastisch-Realistisches hat man noch nicht gesehen.
Genau darauf hat es Regisseur Alejandro Iñárritu abgesehen: möglichst krasse Bilder zu liefern, die das Publikum ganz nah an die Körper der Helden heranführen.
Dass er manchmal sogar Humor hat, bewies Iñárritu mit seiner überraschend witzigen Tragikomödie "Birdman". Nun bewegt sich der mexikanische Star-Regisseur ("Babel") wieder in seinem angestammten Reich der Extremzustände. Denn " The Revenant" ist eine Leistungsschau in extremis, ein schauspielerischer Gewaltakt und eine visuelle Tour de Force. Manuel Lubetzki – nicht zufällig auch der Kameramann von Terrence Malick – changiert zwischen erhabenen Landschaftsbildern in eiskalten Farben und frappanten Details. Voyeuristisch saugt sich die Kamera an Gesichtern fest, bis sich die Linse vom Atem beschlägt. Ein klassischer Rachewestern im Tiefschnee.
Eichhörnchen
DiCaprio kämpft sich als legendärer Trapper Hugh Glass in den 1820er-Jahren durch die Schneewehen des heutigen Dakota. Tom Hardy als John Fitzpatrick spielt seinen miesen Gegenspieler: Ein verschlagener Typ, der nur ans Geld denkt und schräge Sätze knödelt: "Gott ist ein Eichhörnchen. Manchmal muss man es auch essen" (oder so ähnlich). Nachdem sich Glass mit Meister Petz gebalgt hat, sieht sein Rücken aus wie ein zerrissener Teppich. Seine Kameraden, allen voran Fitzpatrick, halten ihn für todgeweiht und lassen ihn zurück. Dass Glass überlebt und halb tot durch den Wald robbt, um Rache zu nehmen, kann niemand ahnen.
Iñárritu infiltriert die Ikonographie der Westernlandschaft mit erschütternden Horrorvisionen. Das Leid der Ureinwohner zeigt sich in albtraumartigen Dörfern: Dort liegen die hingeschlachteten Eingeborenen zwischen schwelenden Feuern und zertretenen Hütten.
Die karg hingetupften Sounds von Ryuichi Sakamoto und Carsten Nicolai verstärken die geisterhafte Schönheit einer gleichgültigen Natur im Angesicht menschlicher Gräuel. Durch dieses Szenario des Schreckens schleppt sich der schwer verletzte Hugh Glass. Einmal steigt er sogar nackt in den Bauch eines toten Pferdes, um zwischen dessen Rippenbögen zu kuscheln. Auch eines jener Bilder, die man so schnell nicht vergisst.
Trotzdem können episch zerdehnte zweieinhalb Stunden ziemlich lang werden. Zumal Iñárritus etwas streberhafter Siegerwille, den ärgsten Western der Dekade zu liefern, offen auf der Hand liegt. Aber eines ist gewiss: "Der Rückkehrer" mit seiner Bildgewalt und seinen irritierenden Tönen ist im Kino zu Hause – und genau dort sollte man ihn sich ansehen.
INFO: The Revenant. USA 2015. 156 Min. Von Alejandro G. Inarritu. Mit Leonardo DiCaprio, Tom Hardy.
KURIER-Wertung:
Im Kino: "The Revenant - Der Rückkehrer"
"Das bin ich!", jubelt Napoleon Bonaparte jedesmal begeistert, wenn er im Louvre ein Porträt von sich hängen sieht. Immerhin – es war ja auch er, der nach gewonnenen Kriegszügen Kunstschätze aus aller Welt im Pariser Museum anhäufte. Doch auch Hitler interessiert sich für den Louvre – schon bald tritt der deutsche Graf Wolff-Metternich im Namen der Nazis über die Schwelle und plant mit dem Museumschef Jacques Jaujard (heimlich) die Rettung der Kunstwerke. Meisterlich changiert der Russe Alexander Sokurow zwischen den historischen Zeiten und filmischen Formaten und befragt in seinem exzellenten Essay – witzig, trefflich, dramatisch – den Stellenwert von Kunst in Zeiten des Krieges.
Text: Alexandra Seibel
INFO: F/D/NL 2015. 88 Min. Von Alexander Sokurow. Mit Louis-Do Lencquesaing, Benjamin Utzerath.
KURIER-Wertung:
Die neue Küchengehilfin ist ganz schön alt. Knapp 76, um genau zu sein. Trotzdem lässt sich Sentaro, der Betreiber einer japanischen Imbissstube, breitschlagen: Er heuert die betagte Tokue an, weil sie die beste Bohnenpaste weit und breit fabriziert. Sie spricht sogar mit den Bohnen – und binnen kurzem verwandelt sich der träge Laden in ein florierendes Geschäft.
Empfindsam bringt die japanische Regisseurin Naomi Kawase – Dauergast auf dem Filmfest in Cannes – die Schönheit des japanischen Kirschblütenfrühlings mit dem zerquälten Seelenleben ihrer Protagonisten in Einklang. Tokue hat verkrümmte Hände – sie leidet an Lepra! –, und auch Sentaro lebt am Rande der Gesellschaft. Immer wieder gelingen Kasawe dabei berührende Momente, doch allzu oft bleibt ihr etwas gefälliges Melodram in allerweltsphilosophischen Betulichkeiten stecken.
Text: Alexandra Seibel
INFO: J/F/ 2015. 113 Min. Von Namoni Kawase. Mit Kirin Kiki, Masatoshi Nagase.
KURIER-Wertung:
"Louder Than Bombs" ist ein vielschichtiges Familiendrama rund um einen Vater und seine zwei Söhne, die den mysteriösen Tod der Frau und Mutter erforschen und dabei auch mehr über einander erfahren. Beeindruckend ist vor allem das Star-Ensemble rund um Gabriel Byrne und Isabelle Huppert.
Die Männer ringen mit ihren Erinnerungen an die tote Frau, die sich als Kriegsfotografin im Nahen Osten herumtrieb. Regisseur Joachim Trier versucht die Gefühlswelten der Männer rund um die Tote zu ergründen und beweist ein Gespür für effektvolle Bilder und dramaturgische Raffinesse. Den Schmerz des Verlustes und der Desorientiertheit kann er aber nicht wirklich spürbar machen.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: N/F/DK 2015. 109 Min. Von Joachim Trier. Mit Isabelle Huppert, Gabriel Byrne.
KURIER-Wertung:
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