Der Liebhaber - von Marguerite Duras

Der Liebhaber - von Marguerite Duras
Der Roman erzählt eine Amour Fou im frankophonen Vietnam der 1930er Jahre als Gratwanderung zwischen Entsetzen und Begeisterung.

Als "L`Amant" 1984 erschien, konnten die Reaktionen nicht unterschiedlicher ausfallen: Erst wilde Empörung über diese Erzählung einer französischen Lolita, dann der wichtigste Literaturpreis des Landes: der Prix Goncourt. Auch heute schwankt man beim Lesen zwischen Entsetzen und Begeisterung - zu eindringlich, zu nahe ist hier das Erleben einer 15-Jährigen geschildert, die sich einem doppelt so alten Mann hingibt.

"Der Liebhaber" ist ein gerade einmal hundert Seiten umfassendes Kaleidoskop aus intensiven Erinnerungen. Die Ich-Erzählerin, alt und mit "verwüstetem Gesicht", lässt sich in die Vergangenheit sinken und berichtet von ihrer Kindheit und Jugend im Vietnam der 1930er-Jahre, damals eine französische Kolonie. In kurzen Textscherben entwirft Duras die Geschichte: Wie das junge Mädchen auf einer Fahrt von Sadec nach Saigon einen reichen Geschäftsmann kennenlernt, auf der Fähre über den Mekong, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Rasch werden sie ein Paar: Er bis zur Verzweiflung in das junge Mädchen verliebt, sie vielleicht nicht liebend, aber doch Lust und Zuneigung verspürend. Der vornehme Chinese aus Fou-Chouen und die Tochter einer französischen Lehrerin, die alleine im fremden Land drei Kinder durchbringen muss - eine unmögliche Liaison. Zwar will "Der Liebhaber" sie heiraten, ist aber nicht nur finanziell von seinem Vater abhängig, der eine Ehe kategorisch ablehnt. Fast zwei Jahre treffen sie einander, die Grenze zur Prostitution ist fließend. Denn er bezahlt sie, unterstützt sie und ihre Mutter, die das Geld dringend nötig hat, oder begleicht die Spielschulden des älteren Bruders. Das komplizierte Familiengeflecht aus Schuld und Schmerz nimmt einen großen Raum in der Erzählung ein, ist noch stärker akzentuiert als die Liebesgeschichte: die verzweifelte, von hysterischen Anfällen geprägte Mutter, der ältere Bruder, boshaft und von der Mutter bevorzugt, der jüngere, früh sterbende Bruder und schließlich sie - das Mädchen mit dem reichen Chinesen.

Das alles ist unheimlich dicht geschrieben, bravourös, nicht immer leicht zu lesen und pausenlos wechselnd in der Perspektive - das eine Mal in der Ich-Form rückblickend, das andere Mal distanziert in der dritten Person geschildert, in Zeit und Ort hin- und herspringend. Und dennoch ein Buch, das man, einmal begonnen, nicht mehr weglegt. Es sind Fragmente einer Erinnerung, die sich beim Lesen wie ein faszinierendes geheimes Tagebuch aufdrängen - und einen nicht mehr loslassen.

Der Liebhaber - von Marguerite Duras

Und das Autobiografische? Viel wurde spekuliert, sind die Parallelen zur Vita von Marguerite Duras doch evident: 1914 als Tochter eines Lehrerehepaares in Vietnam geboren, ging die Schriftstellerin 1932 mit 17 nach Frankreich und studierte in Paris. 1943 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, den internationalen Durchbruch schaffte sie 1959 mit dem Drehbuch zu "Hiroshima, mon amour". Und eine verbotene Liebe zu einem chinesischen Millionär in der Kindheit? Duras selbst erteilt uns im "L`Amant" eine Antwort: "Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht. So etwas gibt es nicht. Es gibt nie einen Mittelpunkt. Keinen Weg, keine Linie. Es gibt weiträumige Orte, von denen man glauben macht, es habe hier jemanden gegeben, das stimmt nicht, es gab niemanden." Niemanden? Es gibt die Autorin. Marguerite Duras, die ihren eigenen Mythos durch die kunstvolle Vermischung von Wahrheit und Fiktion vorantrieb. Und die mit "Der Liebhaber" einen faszinierenden Text über wahre und erdachte Liebe schrieb.

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