"Der große Trip - Wild": Der lange Marsch zum Ich

Kinn nach vorn und durch: Reese Whiterspoon begibt sich als Cheryl Strayed auf einen lange Wanderung,  um sich selbst zu finden 
Reese Whiterspoon holt sich beim Bergwandern blutige Fersen.

Der verdammte Tag 36.

An diesem Tag löst sich der große Zehennagel vom Fuß, und der Bergschuh, das Miststück, stürzt in die Felsspalte. Danach heißt es weiterwandern mit Sandalen.

Blut rinnt, Ferse schwillt.

Aufgeben ist keine Option. Über 4000 Kilometer muss sie marschieren auf diesem Fernwanderweg, der sich Pacific Crest Trail nennt. Er verläuft von der amerikanisch-mexikanischen bis zur kanadischen Grenze und zieht sich durch die Bundesstaaten Kalifornien, Oregon und Washington. Dazu gehören heiß brütende Steinwüsten – Heimat der Klapperschlange – und das raue Hochgebirge der Sierra Nevada. Kein Spaziergang, und schon gar nicht für eine allein wandernde Frau.

Aber es ist nicht reine Wanderlust, die Cheryl Strayed antreibt. Die junge Frau marschiert, um Klarheit über sich selbst zu gewinnen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Denn nach dem überraschenden Tod der Mutter lief das Leben der Tochter völlig aus dem Ruder. Wahllose Sexaffären zerrütten ihre Ehe und münden schließlich in ein tristes Dasein als Junkie. Zuletzt zieht Cheryl die Reißleine und verordnet sich selbst eine strapaziöse Einsamkeitstour.

Im Jahr 2012 schrieb sie darüber ein Buch, das der britische Erfolgsautor Nick Hornby ("About a Boy") nun für die Leinwand adaptierte. Regisseur Jean-Marc Vallée – seit seinem Erfolgsfilm "Dallas Buyers Club" Spezialist für Oscar-Stoffe – verfilmte, und Reese Whiterspoon kam als Produzentin und Hauptdarstellerin dazu.

Die "Natürlich blond(e)" Whiterspoon schiebt als Cheryl ihr berühmtes Kinn nach vorne und tritt mit zusammengebissenen Zähnen den langen Marsch an. Allein der schwere Rucksack scheint eine unüberwindbare Hürde und wirft sie wie einen Käfer auf den Rücken. Auch die Bedienung von Camping-Kochern will gelernt sein und verdammt Cheryl in den ersten Tagen zu täglich kaltem Haferbrei.

Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Weder Blutblasen, noch Klapperschlangen, noch bedrohliche Waldarbeiter können sie aufhalten. Verbissen bahnt sie sich ihren Weg durch die Einsamkeit. Dabei ereilen sie immer wieder Erinnerungshiebe aus der Vergangenheit in Form von Rückblenden – manchmal nur schlaglichtartig in traumtänzerischen Bildern; manchmal in längeren Erzählsequenzen.

Selbstfindungsland

Vallée verkneift sich allzu schmalzige Ausritte ins Selbstfindungsland: Weder verkitscht er die Schönheit der Natur, noch kleistert er die Reise seine Heldin mit Sentimentalmusik zu. Trotzdem erschöpfen sich die endlosen Rückblenden zunehmend in einer ermüdenden Konvention der Katharsis. Laura Dern als verstorbene Mutter hat engelsgleiche Erinnerungsauftritte, während der töchterliche Absturz in die Heroinhölle ein wenig an Glaubwürdigkeit leidet. Umso überzeugender aber wirft Whiterspoon taxierende Blicke auf nackt badende Männer. Und wann hat man schon das letzte Mal " El Condor Pasa" im Kino gehört?

INFO: Der große Trip – Wild. USA 2014. 115 Min. Von Jean-Marc Vallée. Mit Reese Whiterspoon.

KURIER-Wertung:

Im Kino: "Der große Trip - Wild"

Bewaffnete Männer geben per Megafon neue Verordnungen durch: Rauchen verboten. Fußball verboten. Musik verboten. Wer sich nicht fügt, wird ausgepeitscht. Oder gesteinigt.

All diese Ereignisse könnte man zu einem drastischen Drama verarbeiten. Doch Abderrahmane Sissako ("Bamako"), ein großer Regisseur aus dem südsaharischen Afrika, geht einen leiseren Weg und beweist sich erneut als der Meistererzähler, der er ist. In "Timbuktu" berichtet er davon, wie 2012 Islamisten die Stadt in Mali besetzen und dort die Bevölkerung drangsalieren. Zu dieser Zeit geraten auch ein Nomade und ein Fischer über eine Kuh in einen Streit, der eine tragische Kettenreaktion in Gang setzt.

Sissako wählt für die Schilderung dieser dramatischen Ereignisse die ruhige Beobachtung und sieht dabei zu, wie Menschen handeln, sich widersetzen – und dabei auch scheitern.

Die Frau, die ausgepeitscht wird, weil sie gesungen hat, fängt während ihrer Bestrafung wieder zu singen an – und ihr Schmerz entfaltet sich in der Stille des Bildes mit umso größerer Wucht.

Gleichzeitig verzichtet Sissako aber auch auf stereotype Einseitigkeiten: Dass der fanatische Dschihadist heimlich raucht, räumt auch der Seite der Unterdrücker Menschlichkeit ein.

Zu den atemberaubendsten Momenten gehört jene Szene, in der eine Gruppe von Männern den verbotenen Fußball spielt – und zwar ohne Ball. Wie elegante Tänzer umspielen sie die imaginäre Kugel und entfalten dabei ein wunderbares Ballett der Fantasie, dessen utopische Schönheit einer grausamen Realität Widerstand leistet.

INFO: F/MR 2014. 97 Min. Von Abderrahmane Sissako. Mit Ibrahim Ahmed, Abel Jafri, Toulou Kiki.

KURIER-Wertung:

"Der große Trip - Wild": Der lange Marsch zum Ich
Ein Streit um eine Kuh hat dramatische Konsequenzen: „Timbuktu“

Elternabend auf der Kinoleinwand: Fünf durchgeknallte Eltern rotten sich zusammen, um ihre Kinder gegen deren Volksschullehrerin zu verteidigen. Anders als im wirklichen Leben liegen in Sönke Wortmanns ("Fack ju Göhte!") bissiger Gesellschaftskomödie die Sympathien eher auf Seiten der Lehrerin. Denn noch ärger als die verzogenen Kinder benehmen sich die Erwachsenen in der Schule, allen voran die brillante Anke Engelke als Polit-Karriere-Mutter.

Die dramaturgische Steigerung von "Der Gott des Gemetzels" wirbelt alle Pädagogik-Ratgeber und Eltern-Klischees durcheinander, um nach einer 90-minütigen Schulstunde die eigentlichen Beweggründe zu enthüllen: Die Noten der Kinder. Wenn die Zuschauer aus dem Fegefeuer der Eitelkeiten herauskommen, wartet auf sie musikalische Erlösung im Nachspann: "Lass’ der Jugend ihren Lauf".Mehr über die Wahnsinnseltern: www.kurier.at/familie

INFO: D 2015. 87 Min. Von Sönke Wortmann. Mit Gabriela Maria Schmeide, Anke Engelke.

KURIER-Wertung:

"Der große Trip - Wild": Der lange Marsch zum Ich
Wer kennt sie nicht?
Verrückte Eltern auf Kriegspfad

"Unbroken"

Kriegsdrama. Angelina Jolies zweite Regiearbeit taucht tief in sogenanntes Männerterrain ein. Nach einem Drehbuch, an dem die Brüder Joel und Ethan Coen beteiligt waren, verfilmte sie die wahre Geschichte des US-Olympia-Athleten Louis Zamperini. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stürzt Zamperini als Mitglied einer Bomberbesatzung über dem Pazifik ab und treibt 47 Tage im Schlauchboot auf offener See. Zuletzt wird er von einem japanischen Kriegsschiff aufgegriffen und gerät in Gefangenschaft. Dort geht sein Martyrium erst so richtig los. Jolies sichtbar teuer produziertes Historiendrama bleibt trotz schöner, klarer Bilder von Roger Deakins weitgehend handschriftenlos. Die Konzentration auf den einen, unbeugsamen Amerikaner, der sich trotz brutalster Bedingungen moralisch nicht brechen lässt, führt zunehmend in die Eindimensionalität der Charakterzeichnung. Zuletzt leidet Zamperini wie ein christlicher Märtyrer, ehe „Unbroken“ mit der Frohbotschaft der Vergebung endet.

"Annie"

Musical. Das Waisenmädchen Annie leidet unter seiner Pflegemutter. Plötzlich bemüht sich ein angehender Politiker um sie, um bei seinen Wählern guten Eindruck zu schinden.

"Dark Star – HR Gigers Welt"

Doku über den surrealistischen Schweizer Künstler Hansruedi (HR) Giger, der mit seinem Setdesign für „Alien“ berühmt wurde und einen Oscar erhielt.

"Doktor Proktors Pupspulver"

Kinder. Abenteuer rund um einen norwegischen Erfinder und seine zwei Nachbarskinder.

"Unter Film setzen"

Vortrag. Mit dem Slogan „Unter Film setzen“ entwarf Walter Gropius 1927 in Berlin das „Totaltheater“: Dazu ein Vortrag des Architekten Javier Navarro de Zuvillaga am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in der Wiener Hofburg, Batthyanystiege (15.1., 19.00).

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