Das Teleskop am Ende der Welt

Schemenhaft taucht das Observatorium Nischni Archys aus dem Nebel auf – ein monströser Gupf. In den ’60er-Jahren war das Gebäude futuristisch, heute wirkt es museal.
Simon Mraz, der österreichische Kulturattaché in Moskau, realisierte in Tscherkessien ein an sich unmögliches Projekt: eine Ausstellung im gigantischen Observatorium von Nischni Archys.

Was jetzt folgt ist eine fast kafkaeske Geschichte. Schuld daran hat Simon Mraz. Er sieht aus wie ein zerstreuter Gelehrter mit Hang zum Genialischen und passt so gar nicht in den diplomatischen Dienst. Aber seit 2009 leitet er das Kulturforum in Moskau – höchst erfolgreich und völlig unkonventionell.

Immer wieder dringt Mraz, Jahrgang 1977, in unbekannte Terrains vor: Er organisierte Ausstellungen mit Gegenwartskunst im Planetarium von Nischni Nowgorod und auf dem Atomeisbrecher Lenin in Murmansk, im vergangenen Jahr entsandte er Fotografen in alle Teile der Föderation, um geschlossene Städte zu porträtieren.

Aufgrund seiner emsigen Arbeit kam er in Kontakt mit den Zwillingen Mariana und Madina Gogova, zwei aufgestylte Frauen, die immer Stöckelschuhe tragen. Die eine leitet in Moskau die Artwin Gallery, die andere war Kulturministerin der russischen Republik Karatschai-Tscherkessien. Sie schlugen Mraz vor, in ihrer Heimat ein Projekt zu realisieren. Und so bereiste Mraz mit den beiden abasinischen Schwestern das Land, das niemand kennt. Es liegt im Nordkaukasus und erstreckt sich von steppenartigen Gebieten bis zum 5642 Meter hohen Elbrus.

Die Unterwerfung der Karatschaier, Tscherkessen und der anderen Ethnien, die hier friedlich nebeneinander leben, dauerte ein halbes Jahrhundert – bis zum Jahr 1864. Auch in der Folge hatten es die Menschen in diesem schwach besiedelten, recht unwegsamen Gebiet nicht leicht: Sie wurden vom Stalin-Regie unterdrückt, Hunderttausende kamen nach Sibirien, im Zweiten Weltkrieg marschierte die deutsche Wehrmacht ein.

Es gäbe, sagt Mraz, so viele Themen hier. Aber eines faszinierte ihn sogleich: das Observatorium, das die Sowjets in den 1960er-Jahren auf etwa 2300 Meter Seehöhe errichteten. Es war einst, hergestellt von Lomo, das größte Spiegelteleskop der Welt. Heutzutage ist es immerhin das größte Eurasiens.

Ja, hier, in dieser immer noch nicht lichtverschmutzten Gegend am Ende der Welt (die Straße endet tatsächlich am Fuße des Elbrus, wo die Russen gerade ein Skigebiet aus dem Boden stampfen), in den dunklen Wäldern, in denen es noch jede Menge Bären gibt, wollte er zusammen mit den beiden Gogova-Schwestern eine Ausstellung mit ortsspezifischen Werken realisieren. Einen besseren Zeitpunkt hätte man kaum finden können. Denn das Observatorium, das der russischen Akademie der Wissenschaften untersteht, feiert sein 50-Jahr-Jubiläum.

Der Stolz der UdSSR

Eine Ausstellung am Ende der Welt hat aber keine Laufkundschaft. Sie existiert nur, wenn über sie berichtet wird. Und so lud das Trio, unterstützt von Sponsoren wie Vamed und Raiffeisen, rund 30 Journalisten zur Eröffnung ein, darunter etwa 20 russische, etliche Moskau-Korrespondenten westlicher Medien – und den KURIER. Eine solche Einladung kann man nicht ausschlagen. Denn wann sonst kommt man nach Tscherkessien? Und wer sieht das Observatorium, Stolz der UdSSR, schon von innen?

Doch zu ihm zu gelangen: Das ist nicht einfach. Der Reporter war sich irgendwann gar nicht mehr sicher, ob er das Observatorium je erreichen würde. Zeitig in der Früh wurden er und seine Kollegen in den Hotels von Tscherkessk, der Hauptstadt, abgeholt. Er hatte im "Grand Kavkaz" genächtigt, die russische Mannschaft im "Edelveis". Auch wenn er in der Dämmerung nicht viel sah, so erkannte er doch, dass man hier nicht gewesen sein muss: Deprimierende Plattenbauten – wie überall in Russland.

Nach drei Stunden, kurz vor der Abzweigung hinauf zum Observatorium, machte der Chauffeur des Busses eine Pause. Zu beiden Seiten der Straße boten die Bauern ihre Waren feil. Es gab Felle zu kaufen, eingelegte Pilze, Sackerln mit Kräutertee und Marmeladen aus Pockerln. Ein alter Mann hielt Fleischspieße über das Holzkohlenfeuer. Der Nebel hing tief, man sah keine Berge, man sah so gut wie nichts. Im Nachhinein erinnerte die Situation an Franz Kafkas "Das Schloß". Der Roman beginnt mit: "Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor."

Der Chauffeur verfuhr sich, er brauchte elendslang zum Reversieren, denn der Motor starb bei jedem Vor und Zurück ab. Mit Verspätung erreichte der Tross die abseits am Hang gelegene Hochhaus-Siedlung Nischni Archys, in dem die Wissenschaftler und das technische Personal des Observatoriums mit ihren Familien leben. Daher verspätete sich auch der Beginn der Zeremonie im Auditorium, das sowjetischer nicht sein könnte.

Drucke von Klimt

Jeder und jede bedankt sich: der Direktor, der wissenschaftliche Leiter, die ehemalige Kulturministerin und nun Repräsentantin von Karatschai-Tscherkessien in Moskau, weiters Karin Zimmer vom Kulturministerium in Wien, Simon Mraz – und auch Botschafter Emil Brix, der an "unseren" Kosmonauten Franz Viehböck erinnert, dessen Austromir-Weltraumflug exakt 25 Jahre her ist.

Danach Essen in der Kantine, köstlicher Borschtsch und fetter Fisch. An den Wänden hängen Drucke von Werken Gustav Klimts. Nun endlich die "Exkursion" zu den Kunstwerken. Bei jeder Station endloses Palaver. Irina Korina hat ein Mini-Observatorium errichtet – mit einem Mobile aus Zwirnspule, Tannenzapfen, Teebeutel und Sternbilder-Kugel im Inneren. Eine schöne Metapher.

In der Werkstätte hängt über den Köpfen eine grüne Neoninstallation. Anna Titova erklärt, dass es sich um ein Porträt des Windgottes Äolus handle. Die Zeit vergeht.

Dem Untergang geweiht

Die Bitte, schneller zu machen, fruchtet nichts. Weiter zur Post, zum Gästehaus – und zum ehemaligen Lebensmittelgeschäft. Dort zeigt Yuri Palmin seine Architekturfotografien von Nischni Archys. Das Wissenschaftlerdorf ist langsam dem Untergang geweiht: Einst lebten 1100 Menschen hier, jetzt sind es 850. Die Tankstelle wurde abgerissen, auch die Bushaltestelle, fast alle Gebäude sind desolat.

Um 16 Uhr Abfahrt. Aber nicht zum Observatorium, sondern zu einer byzantinischen Kirche aus dem zehnten Jahrhundert. Dort zeigt Alexandra Paperno 51 Sternbilder, die es 1922 nicht auf die Liste der Internationalen Astronomischen Union geschafft haben. Doch der Chauffeur traut sich mit dem Bus den gatschigen Weg nicht zu. Also zu Fuß im Nieselregen zur Kirche – vorbei an halbverfallenen Bauernhöfen. Bald ist es finster.

Ein monströser Gupf

Um 17.42 Uhr endlich: Schemenhaft taucht das Observatorium aus dem Nebel auf – ein monströser Gupf. In den ’60er-Jahren war das Gebäude futuristisch, heute wirkt es museal: Linoleumböden und Holztüren; die Kommandozentrale, die an frühe Bond-Filme erinnert, ist stillgelegt. Längst wird das Teleskop mit Computern ferngesteuert.

Hier also die Künstler aus Österreich, nominiert von Kurator Andreas Krištof. Eva Engelbert huldigt mit Emblemen der Architektin Galina Balaschowa, die für das sowjetische Raumfahrtprogramm die Anzüge der Kosmonauten und die Kapseln der Raketen entworfen hat. Gleich daneben zeigt Eva Seiler archaisch anmutende "Instrumente" im Stil der Arte Povera. Für den sinnfälligsten Kontrast sorgt der in Wien lebende Bulgare Mikhail Mikhailov: Er stellt dem Makrokosmos sein eigenes Universum gegenüber, den Staub und Schmutz seines Ateliers.

Und dann tritt man ins Freie. Es ist Nacht geworden. In der Ferne leuchten gespenstisch kyrillische Buchstaben. "Heller als wir", so der wuchtige Kommentar von Timofey Radya aus Jekaterinburg. Die an einem unsichtbaren Kran hängende Installation hat Mraz selbst finanziert. Musste einfach sein. Und der Reporter denkt an einen anderen Roman von Kafka, an "Amerika". Der Held erblickt vom Schiff aus die Freiheitsstatue und sagt zu sich: "So hoch!" – Ein grandioser Schlusspunkt.

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