Das Gegenteil ist der Fall, Craig Thompson beschreibt in „Ginsengwurzeln“ anhand der Chronik der exotischen Heilpflanze die halbe Welt. Auf lokaler Ebene: Demokraten versus Trump-Wähler; Linke, die auf den Klimawandel fixiert sind und Bauern, die an der zunehmenden Regulierung der erlaubten Pestizide verzweifeln sowie daran, dass „keiner mehr arbeiten will“. Global gesehen: Ost-West-Kulturkonflikt, Kommunismus versus Kapitalismus, chinesische Comic-Raubkopien, sterbendes Verlagswesen, ganzheitliche Medizin. Und das ist nur ein Auszug. Wesentlich ist auch das Kapitel: Was haben die Europäer eigentlich in Amerika gesucht? Und woher kamen die sogenannten amerikanischen Ureinwohner? Stammen sie womöglich aus Asien und haben vor Jahrhunderten die Ginsengwurzel mitgebracht?
Auf persönlicher Ebene führen die „Ginsengwurzeln“ auch zu den familiären Wurzeln: Zum „da, wo wir herkommen“. Letzteres hat der 1975 geborene Amerikaner Craig Thompson bereits in seinem vor zwanzig Jahren erschienenen Buch „Blankets“ erforscht: Er schrieb darin vom Aufwachsen in einer (zunehmend fanatisch) christlichen Familie in einer Kleinstadt in Wisconsin.
Wie es für seine Eltern und Geschwister war, öffentlich besprochen zu werden, und das nicht immer vorteilhaft, erfährt man nun in den „Ginsengwurzeln“, die erneut auch ein autobiografisches Projekt sind. Dabei, sagt der Autor, wollte er „nicht wieder Erinnerungen zeichnen“, dieses Buch sollte ein essayistisches Sachbuch sein. Was es, entstanden mithilfe jahrelanger Recherchen und quasijournalistischer Interviews mit Produzenten und allen, die mit Ginseng zu tun haben, auch wurde. Aber eben nicht nur. „Ich mag mich nicht selbst zeichnen. Die Wurzel ist die Hauptdarstellerin“, sagt Thomson auf einer Zeichnung, in der er am Steuer seines Autos sitzt, neben ihm eine sprechende Ginsengwurzel, die selbstbewusst antwortet: „Ich bin auch niedlicher“.
Die sprechende Wurzel mit den Glupschaugen steht im drastischen Gegensatz zum dokumentarischen Charakter dieses beeindruckenden Buches. Inhaltlich wie zeichnerisch ist es ein Stil- und Genre-Mix. Von possierlich-abstrakten Kindergesichtern bis zu detailreich gezeichneten Erklärungen über die Unterschiede zwischen amerikanischem und asiatischem Ginseng. Ausgehend von den Erinnerungen an seine Kindheit auf den Ginseng-Farmen von Wisconsin, rollt Thompson die faszinierende Geschichte dieser Pflanze auf, mit der US-Farmer in den 1970-ern gutes Geld verdienen konnten. Facettenreich und voller Aha-Momente.