Die Journalistin und Autorin Colombe Schneck hat sie sich (2015) in ihrem literarischen Schreiben zum Vorbild genommen. Schnecks Texte sind weniger harsch als jene von Ernaux. Ihnen fehlt die Kälte der Normandie, die Brutalität des Aufwachsens in Armut. Schneck erlebte ein behütetes Elternhaus, in dem sie mit dem Gedanken, Buben und Mädchen seien gleich(-wertig), groß wurde.
Doch die Fakten sind am Ende die: Sie sind es nicht. Sie ist 17. Sie hat Sex mit ihrem Freund. Sie wird abtreiben. Eine Erfahrung, die einen nie zu kittenden Riss in ihre Jugend treibt, die doch zunächst so sorglos war. Sie wusste wenig vom harten Weg ihrer Eltern, Kinder jüdischer Einwanderer, die sich zur erfolgreichen Arztfamilie hochgearbeitet hatten und nun an der noblen Pariser Rive Gauche wohnten. Schneck stichelt gekonnt über diese „liberale Bourgeoisie“, die ein politisches Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialisten nicht schreckt, schließlich „haben sie nichts dagegen, Steuern zu zahlen“, aber dennoch „ein kleines Konto in der Schweiz“.
Genau, aber nie bitter schreibt Schneck über die Jugend im Paris der 80er, das Älterwerden, die Liebe, den Verlust. Sie wird verlassen, entlassen, Lebensmenschen verlieren. Eine lebenskluge Pariser Frauengeschichte, bei der man mit der Protagonistin mitweint. Gerade Schnecks knappes Formulieren verdeutlicht, wie erschreckend schnell das Leben vorbeirennt. Eben war sie noch ein Mädchen, heute begräbt sie die Kindheitsfreundin. Dazwischen war sie mit dem Papa in der Brasserie „Closerie des Lilas“ essen. In einer Amazon-Wertung würde stehen: Für Fans von Annie Ernaux und „La Boum“. Und das ist als Empfehlung gemeint.
Der Rebell als Reaktionär
Auf den ersten Blick völlig konträr dazu wirkt der herrlich bösartige zweite Roman des Pariser Rechtsanwaltes Abel Quentin. Der Protagonist von „Der Seher von Étampes“ könnte eine Softversion eines Michel-Houellebecq-Typen sein. Jean Roscoff, ein frisch pensionierter, unglücklich geschiedener, mittelmäßig erfolgreicher Historiker, der zu viel säuft und ständig Motörhead hört, muss sich von der woken Lebensgefährtin seiner Tochter die Welt erklären lassen. Als er mit seinem Buch „Der Seher von Étampes“ eine Hommage auf einen unbekannten afroamerikanischen Dichter schreibt, wirft man ihm plötzlich kulturelle Aneignung vor, weil er die schwarze Identität des Mannes nicht in den Mittelpunkt gestellt hat. Plötzlich scheinen sich die Koordinaten innerhalb des Spektrums von Gut und Böse, mit dem Roscoff lebt, verschoben zu haben. Er ist doch immer auf der richtigen Seite gestanden, war ein Rebell, hat sich gegen Rassismus engagiert, gegen jede Art von Ungerechtigkeit gekämpft! Und plötzlich gilt er als reaktionär?
Bei aller Unterschiedlichkeit ziehen beide Bücher ein bitteres Resümee über das Erbe der Pariser 68er. Bei Quentin hetzen „junge Volkskommissare gegen die alten Hedonisten“. Bei Schneck haben Kommunisten ein Schweizer Bankkonto. Und sie bekennt, dass es heutzutage ganz gut sein kann, sich als Autorin in Interviews als Einwandererkind erkennen zu geben. Man muss ja nicht dazu sagen, dass man im Nobelviertel aufgewachsen ist.