Um „die Verbindung von Form und Gefühl“ geht es der Choreografin und ihrer Compagnie Rosas bei jeder Beschäftigung mit Bach. Dass die „Goldberg Variationen“ in Zeiten des Lockdown kreiert wurden, war auch für De Keersmaeker eine völlig neue Erfahrung. „Ich war gerade in New York, wo ich die Choreografie zu einer Neuproduktion von Leonard Bernsteins ‚West Side Story‘ hätte machen sollen. Dann kam der Lockdown, die ‚West Side Story‘ wurde abgesagt – eine Ausnahmesituation.“
De Keersmaeker: „Es war für mich eine völlig neue Erfahrung, in Isolation und Einsamkeit dieses Werk zu erarbeiten. Aber es war auch eine unglaubliche Freude, an Bach und mit Bach arbeiten zu dürfen.“ Doch sind diese „Goldberg Variationen“ somit ein Corona-Solo? „Nein. Ich hatte immer schon vor, dieses Werk als Solo zu choreografieren. Das bietet sich an. Nun habe ich das Glück, dass ich trotz aller behördlichen Beschränkungen diese Arbeit wie geplant in Wien zeigen darf. Wenn ich in Wien bin, geht es mit immer sehr, sehr gut.“
Weniger gut geht es der Künstlerin, wenn sie an die Zukunft, auch an jene ihrer Compagnie Rosas denkt. „Ich bin seit 50 Jahren Tänzerin, ich feiere also meine Goldene Hochzeit mit dem Tanz“, so die 60-jährige Tanztheaterpionierin. Und: „Ich bin nicht mehr dieselbe, die ich noch vor ein paar Jahren war. Ich möchte meine Erfahrungen auch an die nächsten Generationen weitergeben, daher arbeite ich an vielen Rekreationen von Rosas-Klassikern. Aber das ist in Zeiten einer Pandemie sehr schwer.“
De Keersmaeker weiter: „Wir haben mehr als 125 Performances absagen müssen und 75 Prozent an geplanten Einnahmen verloren. Das ist für junge Tänzerinnen und Tänzer verheerend. Ich bin tief betroffen. Denn diese Krise bedroht alles. Unser soziales, menschliches, künstlerisches Sein und auch unsere Körperlichkeit ist bedroht. Zugleich wirft die Pandemie jedoch Fragen auf. Wie kann man eine andere Welt entwickeln, eine ganz neu gedachte Welt einer Gemeinschaft?“
De Keersmaeker weiter: „Die Zerstörung der Umwelt, des Klimas, der Tiere, unserer Seelen – das hängt doch alles zusammen. Wann werden wir begreifen, dass wir als Menschen nur ein kleiner Teil der Natur sind? Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir uns letztlich selbst. Auf unserem Planeten ist es schon längst nicht mehr 5 vor 12, es ist eher 10 oder 15 nach 12.“
Die Conclusio daraus: „Dieses Virus bedroht unser Leben, sorgt für eine ökologische und ökonomische Krise. Vielleicht können wir aber auch lernen. Wenn kein Wasser mehr aus dem Hahn herauskommt, was machen wir dann? Ich denke, wir stehen an einem Wendepunkt der Menschheit. Und die zentrale Frage lautet: Ist es der Anfang vom Ende oder das Ende eines Anfangs? Ich persönlich hoffe wie einst auch Johann Sebastian Bach auf ein ganz neues Erwachen unserer Seelen.“
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