Denn Castorf wäre nicht Castorf, wenn er eine Geschichte einfach ganz konventionell oder gar bieder erzählen würde. Nein, der deutsche Regiegigant hält szenisch spielerisch leicht mehrere Bälle in der Luft, jongliert virtuos mit Goethe, Gounod, Ideologien und Zeitebenen. Wie immer bildgewaltig mit (vorgefertigten) Videos und stets präsenten Live-Kameras (Tobias Dusche/Daniel Keller), die bildgewaltige Close-ups und visuelle Effekte ermöglichen.
Bühnenbildner Aleksandar Denić hat dafür eine kleine Drehbühnenstadt ersonnen, die Paris in vielen Facetten und auf noch mehr Ebenen widerspiegelt. Ein Telefonzelle, ein Cola-Automat, ein abgetakeltes Billig-Café in den Banlieues und die Metrostation Stalingrad (die gibt es in Paris wirklich) sind die „realen“ Theater-Schauplätze. Auf den Leinwänden aber passiert anderes.
Da nämlich zeigt Castorf von historischen TV-Werbungen für eine „heile“ Familienidylle über Sexsymbole wie Brigitte Bardot, das einst mit Hitlers Nazi-Deutschland kollaborierende Vichy-Regime, bis zu Präsident Charles de Gaulle, den von Autos befahrenen Prachtboulevards oder dem Algerienkrieg. Dazu hat Castorf Texte von Bert Brecht und Arthur Rimbaud auf die Leinwände gebracht, und es wird auch rezitiert, sogar Emile Zolas „Nana“ hat ihren Platz.
Das klingt alles überfrachtet? Ganz und gar nicht. Denn Castorf ist szenisch so nah an Goethe und an Gounod und an den beiden innewohnenden Ideen, wie selten ein Regisseur dieses Werkes. Mephisto als tätowierter Voodoo-Priester, der seine Nadeln erst nur in Puppen sticht, später aber das Messer in den Rücken von Valentin sticht, da Faust zu unfähig ist, diesen mit einem Maschinengewehr zu erschießen.
Dieser Faust wiederum ist anfangs nur ein alter Clochard, der nach seiner Wandlung zum Jüngling aber flott zum Verführer in Anzug und T-Shirt mutiert. Die Hauptfigur Margarethe ist eine eher billige Prostituierte mit Hang zum Höheren und Neigung zu alkoholischen Getränken. Daher auch ihre Visionen von Glück und Schönheit. Doch in der Telefonzelle, die sie frequentiert, heißt es wohl: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Und in der berühmten Gebetsszene – nach einer Fehlgeburt – sind Schlangen ihre Begleiter am Altar.
Valentin ist bei Castorf ein massiv traumatisierter Algerienkriegheimkehrer, der auf die weißen Kachlen der Metrostation schreibt: „Algerien ist französisch!“ Er stirbt dennoch nicht als Held. Dass Kate Lindsey (gut) in der Hosenrolle des Siebel eine Frau sein darf, ist ein toller Kunstgriff, der auch allerlei sexuelle Assoziationen erlaubt.
Ja, Tradionalisten werden mit dieser Glitzerwelt (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) vielleicht ihre Probleme haben. Aber so nah am Text und an der Musik – was für eine Personenführung! – war Castorf in seinen Arbeiten selten.
Musikalisch aber ist dieser „Faust“ eine Offenbarung. Da wäre einmal Juan Diego Flórez in der Titelpartie, der sich eben ein neues Repertoire ersingt. Optisch ideal, vokal mit allen Höhen gesegnet, jedoch auch mit Dramatik ausgestattet. Nicole Car ist eine intensive und hochdramatische Margarethe, die stimmlich keine Wünsche offenlässt lässt. Ein pures Ereignis: Der junge polnische Bassist Adam Palka als ein in jeder Hinsicht charismatischer Mephisto. Ein phänomenaler Singschauspieler, dem sicher die Zukunft gehört. Bitte auch immer wieder in Wien!
Étienne Dupuis ist ein extrem starker und szenisch aufgewerteter Valentin; Monika Bohinec gibt eine mehr als glaubhafte Marthe. Und der Chor der Staatsoper (Einstudierung: Thomas Lang) darf ohnehin zu den Stützen des Hauses gezählt werden.
Wie auch das sehr philharmonisch besetzte Orchester, das unter dem brillanten Dirigat von Bertrand de Billy seelenvoll und mit viel Freude aufspielt. De Billys „Faust“ ist melodisch unglaublich ausbalanciert, nuanciert, beinhaltet aber auch die der Oper immanente Dramatik. Fazit: So geht Musiktheater. Bitte ab 19. Mai auch vor Publikum!
Kommentare