Es wird zu viel gestorben, überall – außer in der Oper.
Dort, im Safe Space des Sterben-Übens, kann das Publikum nicht genug kriegen vom Leid, vom Tod. Und dabei wird die angstbesetzte Männerfrage auf unangenehme Art beantwortet: Ja, es kommt auf die Größe an. Es muss die größte Verführung, das größte Drama, das größte Leid und am Schluss der größte Tod sein, sonst zählt’s nicht. Und sterben müssen wegen dieser Männerunsicherheit oftmals die Frauen.
Warum man ins Opernhaus geht, um letztlich (oftmals) den Tod eines Menschen zu bejubeln? Diese im Prinzip durchaus interessante Frage stellt Hausherrin Lotte de Beer bei ihrer Volksopern-Inszenierung der „Carmen“.
Ein heikles Unterfangen: Gerade diese Opernhitschleuder ist meist hauptsächlich dankbare Vorlage für den Kurzurlaub im Andalusienklischee – Stierkampf, entblößte Schultern, fliegende Röcke, Kastagnetten, und man muss aufpassen, dass man nicht „Siegesgewiss klappert ihr Gebiss“ mitsummt.
Hier aber nun reißt der Schleier: Carmen, gesungen von der Idealbesetzung für diese Interpretation, Katia Ledoux, kapiert, dass sie eine moribunde Opernfigur ist, dass mit ihr ein übles Theaterspiel gespielt wird, das letztlich in ihrem Tod enden wird.
Sarkastisches Torero-Ballett
Sie – offensichtlich mehr informiert in den Feminismusdiskursen von Heute als eine Zigarettenfabrikarbeiterin von Damals wäre – reißt nach und nach die im Wasserfarben-Sevilla gestartete Illusion nieder, dreht die Rückseite der Kulissen nach vorne, ironisiert und unterminiert die aufgeplusterten Männertypen, die der Carmen laut Libretto begegnen. Im schwarzen Overall, mit dem man sowohl auf Arbeiterinnenplakaten des 20. Jahrhunderts als auch bei der feministischen Filmschau von Heute richtig wäre, wird sie zunehmend zum Totalkontrast zu einer um sie herum abschnurrenden Standardinszenierung der Bizet-Oper.
Die erfüllt sonst alle Klischees – so sehr, dass sie am Schluss, als der Zauber schon längst gebrochen ist, in ein ironisches, fast sarkastisches Torero-Ballett als Theater im Theater im Theater mündet, bevor die freiheitsliebende Frau Carmen dem Messer-Femizid zum Opfer fällt. Was für ein bitteres, aktuelles Bild.
Derartige Versuchsanordnungen über die Opernmechanismen – im Publikum: Stefan Herheim, der vor 15 Jahren in der Volksoper bei der „Butterfly“ Puccini selbst auf die Bühne stellte – verschieben natürlich die Dynamiken dessen, was auf der Bühne passiert: Wer in der Anschlusskommunikation im Taxi nach Hause gerne Wörter wie „Erotik“ oder „feurig“ verwenden würde, wird schief angeschaut werden.
Don José ist hier kein strahlender Verführer, sondern einer jener kleinen Normalo-Männer, die sich in den unmännlichen Irrsinn verrennen, Frauen besitzen zu wollen.
Escamillo ist – „siegesgewiss....“ – eine Torero-Behauptung – und wiederum jene Art von Macho, die im tiefsten Inneren Frauen wirklich achten. Und Carmen ist, was viele Frauen sind: Letztlich alleingelassen im Kampf gegen ein patriarchales System, durch dessen Beziehungsnotwendigkeiten sie zuvor zu navigieren versucht.
Apropos navigieren: Ben Glassberg und dem Orchester laufen zum Auftakt die Hitmelodien davon; im Laufe des Abends aber gelingt die „Carmen“ musikalisch auch dann, wenn man gerade nicht auswendig mitsummen kann, obwohl die etwas arhytmischen Spielszenen den Fluss oft unnötig bremsen.
Ledoux ist sicht- und hörbar angekommen, sie trägt den Fokus des Bühnengeschehens und singt so präsent und klar, dass sie am Schluss heftig umjubelt wird. Auch wer vielleicht mit dem Konzept der Aufführung nicht viel anfangen kann, wird sich an diese Carmen erinnern.
Der spät hinzugekommene Tomislav Mužek als Don José muss sich noch ein wenig in die Konstanz eingrooven, zeigte aber vor allem im Finale bereits, was er kann. Josef Wagner gibt dem Escamillo eine ausdrucksreiche Mittellage, die schwierige Rolle fordert ihn in der Tiefe. Berührend Iulia Maria Dan als Micaëla, deren Versteck Carmen am Schluss preisgibt, indem sie einfach die Kulisse umkickt.
Dieser Blick in die Eingeweide der Opernproduktion ist überhaupt eines der Generalthemen des Abends. Man dürfe keine rauchende Menschen auf der Bühne zeigen – aber zum Glück noch Femizide, stichelt De Beer vor Beginn der Aufführung in einem Einspieler.
So wird einer der Running Gags der Aufführung, dass Zigaretten immer auf kunstvolle Art unangezündet bleiben – bis am Schluss Carmen, huch, ausgerechnet mit einer Gruppe Kinder tschickt. Dieses Spiel mit dem, was man auf der Bühne darf und was nicht, zu thematisieren, ist eine Herausforderung an das Publikum, sich seiner eigenen Rezeptionshaltung bewusst zu werden.
Das Publikum sieht sich zum Ende des zweiten Akts selbst dabei zu: Der Sternenhimmel an der Rückseite der Bühne reißt herunter, dahinter sieht man für den Rest des Abends den Chor als Publikum in Logen sitzen.
Das findet den Tod Carmens am Schluss total super, klatscht euphorisch. Das echte Publikum fühlt sich da offenbar mitgemeint, spendet den Musikerinnen viel freudvollen Applaus – und der Hausherrin für einen herausfordenden, freundlich kritischen Abend ordentliche Buhs.
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