Drogenrausch in Cannes: Im freien Fall der Erinnerung

Covid-Duell: Joaquin Phoenix (li.) und Pedro Pascal in „Eddington“.
In Cannes zählt der Gang über den roten Teppich zu den Höhepunkten der populären Schaulust. Je exzentrischer die Gäste, desto exquisiter das Spektakel. Doch Cannes-Chef Thierry Frémaux hat mit der Etikette seines Festivals nicht immer ein sicheres Händchen bewiesen.
Heuer ließ die Leitung kurz vor Beginn mit einer überraschenden Kleidervorschrift aufhorchen: Sogenanntes „Naked Dressing“, also durchsichtige Bekleidung, wurde aus Anstandsgründen untersagt – wobei sich sofort die Frage stellt, wer entscheidet, was zu nackt ist. Ebenfalls unerwünscht sind Kleidungsstücke, deren lange Schleppen zu viel Platz einnehmen; und so musste sich Halle Berry für die Gala kurzfristig umziehen, weil sie sonst gegen den Dresscode verstoßen hätte.
Die Wahl der richtigen Bedeckung wird auch zum Streitfall in einem Wettbewerbsbeitrag, der umgehend in die Kategorie „kontrovers“ fällt: „Eddington“, der neue Film von „Midsommar“-Regisseur Ari Aster, spaltet sein Publikum in Bewunderer und Kopfschüttler. Für die Hauptrolle seines delirierenden Westerns hat Aster erneut seinen „Beau Is Afraid“-Star Joaquin Phoenix gecastet – und lässt ihn als Sheriff der staubigen Kleinstadt Eddington am Stand durchdrehen.
Es beginnt im Covid-Jahr 2020 mit einem Streit um das Tragen von Masken: Nur wer den Gesichtsschutz aufhat, darf in den Supermarkt – der Rest muss draußen bleiben. Der Sheriff – ein Covid-Leugner – bricht daraufhin einen fiebrigen Kleinkrieg gegen den Bürgermeister vom Zaun.
Aster ist für sein überhitztes Affektkino der Ausnahmezustände berühmt. In „Eddington“ jedoch kocht er Zutaten wie Verschwörungstheorie, Fake News, Covid-Lockdown und Spaltung der Gesellschaft zu einer albtraumhaft vor sich hin halluzinierenden Gesellschaftssatire auf, die keine Erkenntnisse liefert und auch nicht unterhaltsam ist. Phoenix spielt seinen unsympathischen Sheriff mit bewährter Kompetenz; doch weder er noch Emma Stone als seine neurotische Ehefrau oder Austin Butler als Sekten-Guru können in Ari Asters Feuerwerk der Ideologiekritik Fuß fassen, ehe es im Zynismus verpufft.
Im Griff der Sucht
Wie bereits im Vorfeld angekündigt, strotzt das heurige Programm des Filmfestivals von „jungen“ Debütfilmen – und die Komödie der Französin Amélie Bonnin zum Auftakt lieferte dafür gleich ein Beispiel. Unter die Debütanten haben sich diesmal aber auch bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen gemischt, die erstmals den Schritt hinter die Kamera gemacht haben. Dazu zählen der britische „Triangle of Sadness“-Darsteller und „Babygirl“-Star Harris Dickinson mit seinem Außenseiterdrama „Urchin“ und die ehemalige „Twilight“-Teen-Queen Kristen Stewart mit der Verfilmung der Memoiren von US-Autorin Lidia Yuknavitch. Beiden eindringlichen und sensiblen Debütfilmen liegt das Thema Sucht zugrunde.

Frank Dillane im Griff der Drogensucht in "Urchin“, dem Regie-Debüt von Harris Dickinson
Dickinson steigt in die Fußstapfen des sozialrealistischen Kinos eines Mike Leigh und streut eine Prise magischen Realismus darüber. Im Mittelpunkt steht Mike, ein junger Typ auf Drogen. Nachdem er einen Mann überfallen und dessen Uhr gestohlen hat, ist er nicht mehr obdachlos, sondern im Gefängnis. Nach einer Entziehungskur versucht Mike wieder auf Kurs zu kommen. Er nimmt zuerst einen Job in einer Hotelküche an, dann arbeitet er als Müllsammler.
Mit anteilnehmendem Blick und nicht ohne Witz nimmt Dickinson das Milieu der Obdachlosen und sozial Bedürftigen im Norden von London in den Blick. Sein Hauptdarsteller Frank Dillane verkörpert den instabilen Mike bestens balanciert zwischen ausgenüchtertem Charme und zugedröhnter Gemeinheit. Das Sozialsystem bietet ihm eine zweite Chance, die Bekanntschaft mit einer jungen Frau die Perspektive auf Liebe: Es wird getanzt und Karaoke gesungen. Aber Dickinson sucht nicht das Wohlfühl-Ende, sondern stellt sich der Realität der Drogensucht und ihrer immanenten Nähe zum Tod.
Mitfühlend, aber unsentimental begleitet er – übrigens auch in einer kleinen Nebenrolle – seinen Protagonisten durch die Tiefen seiner Abhängigkeit und entlässt ihn schließlich im freien Fall.

Traumabewältigung: Imogen Poots als Lidia Yuknavitch in „The Chronology of Water“.
Auch in Kristen Stewarts „The Chronology of Water“ ist die Protagonistin Lidia süchtig und die Wodkaflasche nie weit. Als Kind Leistungsschwimmerin und vom Vater missbraucht, hat das Trauma in Form von selbstzerstörerischem, aggressivem Verhalten von ihr Besitz genommen. Nur Schwimmen und Schreiben bieten Erleichterung.
Im Gegensatz zu Dickinson erzählt Stewart in Schüben: Ihre assoziativen Bilder, immer nahe am Körper der souveränen Hauptdarstellerin Imogen Poots, greifen manchmal der Handlung vor oder springen in die Vergangenheit zurück. Dadurch entsteht weniger eine Chronologie der Ereignisse als vielmehr eine Schichtung der Gefühle: Sie halten das erlittene Trauma präsent und machen die Anstrengung spürbar, die die Last der Erinnerung mit sich bringt.
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