Regisseurin Lydia Steier zeigt Bernsteins Vertonung von Voltaires Satire „Candide“ als fulminantes, Epochen überspannendes Vaudeville-Stück. Die aufeinander abgestimmten Kostüme lassen erkennen, in welcher Zeit man sich befindet. Begonnen wird in der deutschen Romantik, das Autodafé in Lissabon führt in die Zeit der Inquisition, gereist wird auf Segelbooten und einem Hochseeschiff, das mit Diktatoren aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Zeiten untergeht, Donald Trump inklusive.
Gespielt wird in einem von Glühbirnen umrahmten Guckkasten (Bühne: Momme Hinrichs), das lässt eine Art Broadway-Atmosphäre aufkommen. Die Kulissen sind liebevoll gestaltet, ein kleines Haus, das als Schloss fungiert, blaue Wellen aus Karton und Stoff symbolisieren das Meer, grüne Blätterwände einen Dschungel. Mit einfachen Mitteln entstehen so zauberhafte Bilder.
Candide, ein unehelicher Sproß der Familie, wird mit den Kindern des Barons Thunder-ten-tronckh in Westfalen erzogen. Der lüsterne Lehrer Pangloss suggeriert den Zöglingen, dass sie in der besten aller Welten leben. Doch bald erkennen sie, dass diese gar nicht gut ist. Candide wird vom Hof geworfen, weil er Cunegonde, der Tochter des Hauses, zu nahe gekommen ist. Damit nimmt die schmerzvolle Reise in die Erkenntnis Fahrt auf.
Ein Krieg zerstört das Schloss, Candide gerät in Lissabon in ein Autodafé. Er bleibt verschont, weil die Erde bebt. Cunegonde verkauft sich in Paris einem jüdischen Banker und einem Bischof, bis Candide sie holen kommt, nimmt sie mit und verliert sie in Buenos Aires an einen wohlhabenden Gouverneur. Der gibt ihm den Auftrag, aufständische Jesuiten in Paraguay zu disziplinieren. Die Liebe zu Cunegonde treibt Candide voran, lässt ihn, der stets an das Gute glaubt, sogar zum Mörder werden und am Ende zur Erkenntnis gelangen, dass das Leben weder gut noch böse ist. Candide bleibt der Rückzug in seinen Garten und die Aufzucht von Bäumen.
Als Bernstein diese Musik schrieb, überschattete die McCarthy-Ära das Leben in Amerika. Bernstein selbst wurde wegen seiner kritischen Haltung vom FBI verfolgt. Sein Akt ist 800 Seiten stark. Steier geht in ihrer Inszenierung jedoch nicht darauf ein.
Sie fokussiert ihre akkurate Personenführung auf die Musik. Gespielt und gesungen wird von allen im Ensemble famos. Matthew Newlin punktet als sympathisch-naiver Candide mit Ausdruck und schönen Phrasierungen. Nikola Hillebrand betört als Cunegonde mit fulminanten Koloraturen. Helene Schneidermann beeindruckt als Old Lady. James Newby und Ben McAteer sowie der Rest des Ensembles agieren und singen beachtlich, viele in mehreren Rollen. Souverän der Arnold Schoenberg Chor. Vincent Glander ergänzt als Erzähler mit zurückhaltender Gelassenheit.
All das geschieht im absoluten Einklang mit der Musik, deren Vielschichtigkeit Marin Alsop am Pult des sehr gut disponierten ORF Radiosymphonieorchester Wien (RSO) hören lässt. Da ist die Bernstein-Schülerin in ihrem Element., sie lässt die Rhythmen spüren. Phänomenal, wie natürlich diese Dirigentin die Übergänge zwischen Walzer, Tango, Chorälen, operettenhaften Passagen, Belcanto und all den anderen Stilen schafft. Da wird jede Genre-Diskussion obsolet.
Jubel für diese fulminante Produktion, die nur einen Wunsch offen lässt, dass sie auch in einem Stagione-Betrieb wiederaufgenommen wird.
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