„Unordnung“
Gleich eingangs weist der Autor darauf hin, dass diese Praxis „uralt“ ist und „sich schon in der Antike verfolgen“ lässt. So macht er den „Ursprung aller Cancel Culture“ schon bei Platon aus, dem „Vielfalt und Differenz, Meinungsstreit und politische Konflikte“ als „Ausdruck von Unordnung“ galten: „die wohlgeordnete Stadt und die Seelenruhe des Einzelnen“ wollte Platon nicht gestört wissen.
Als Gegenmodell zur Cancel Culture sieht Nida-Rümelin „die aufklärerisch gestimmte Kritik“ (und auch dafür findet er Ansätze bei Platon). Solche Kritik ist für Nida-Rümelin konstitutiv für die moderne Demokratie. Diese müsse „Widersprüche und Konflikte“ aushalten „und überführt Interessensdivergenzen in Argumente“. Aus all dem folgert er lapidar: „Cancel Culture hat in der Demokratie keinen legitimen Ort.“
Verfassungsbogen
Die Klarheit und Stringenz von Nida-Rümelins Argumentation ist bestechend, beeindruckend sein bedingungsloses Festhalten an Rationalität und Diskurs. Wer möchte ihm nicht zustimmen, wenn er etwa schreibt: „Die Praxis öffentlicher Verständigung muss in den Grenzen des arco costituzinale (Verfassungsbogen; Anm.) inklusiv sein, sie darf niemanden diffamieren, diskreditieren und marginalisieren.“
Freilich: vieles von dem, was unter Cancel Culture subsumiert wird, passiert gerade unter Berufung auf diese hehren Ziele. Ist doch Cancel Culture letztlich nur ein Auswuchs jenes nivellierenden Furors, welcher in jeder Form von Unterscheidung (lat. discriminare = unterscheiden) schon eine Diskriminierung erblickt. Gecancelt werden also Meinungen, Personen, Texte, Denkmäler etc. just im Zeichen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Inklusion und dergleichen mehr.
Man mag auch fragen, ob das Bild von Demokratie, Diskurs und Öffentlichkeit, von dem der Autor ausgeht, nicht allzu idealtypisch gezeichnet ist. Es träfe zu, bestünde die Welt aus lauter Nida-Rümelins unterschiedlicher philosophischer Denkschulen. Dann freilich wäre alles ganz einfach – und dann gäbe es auch keine Cancel Culture.
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