So kurz lässt sich Ulrike Draesners Roman „Zu lieben“ zusammenfassen. Wobei das mit dem Wort „Roman“ so eine Sache ist. Ist das ein Roman? Draesner, 1962 in München geboren, ist eine der wichtigsten deutschen Gegenwartsautorinnen. Für ihr 2023 erschienenes Buch „Die Verwandelten“ wurde sie bejubelt, Kritiker-Guru Denis Scheck zog gar Vergleiche mit Günter Grass’ „Blechtrommel“. Draesner selbst bezeichnet sich als „Grenzgängerin zwischen den Genres, zwischen Fiktion und Wissenschaft“.
Was ist wahr?
Auf dem Cover des vorliegenden Buches steht als Genrebezeichnung „Roman“ – allerdings durchgestrichen (ein Stilmittel, das Draesner öfter einsetzt). Wenn wo „Roman“ draufsteht, und sei das Wort durchgestrichen, heißt das noch lange nicht, dass das, was drin ist, erfunden ist. Draesner erzählt hier ihre eigene Geschichte. Von emotionalen Hochs und Tiefs, von anfänglicher Ablehnung – das Kind brüllt bei jeder Berührung – bis zu einer verschworenen Mutter-Tochter-Gemeinschaft, die aus der Gegenwart in die erzählte Zeit durchblitzt.
Mary, so heißt Draesners Tochter, ist jetzt fast erwachsen und weiß, was ihre Mutter schreibt. Darin liegt die Herausforderung und Draesners große Kunst: Wahrhaftig, aber niemals rücksichtslos erzählen. Eine Gratwanderung. Die Autorin spricht Heikles an, etwa: Wäre es besser gewesen, ein anderes, jüngeres Kind zu adoptieren? Eines, das keine andere Mutter kennt? Auch die selten ausgesprochene Wahrheit, dass man erst lernen muss, ein Kind zu lieben, und die Zweifel, ob man das kann, kommen zur Sprache.
Ist es das Richtige?
Und dann sind da die vielen äußerlichen Hürden. Vom Behörden-Dschungel und Vorurteilen auf beiden Seiten (sie werden andauern: Die Mutter wird noch Jahre später in Deutschland gefragt, wo denn ihre Tochter „eigentlich“ her sei).
Die Welten, aus denen die Eltern und ihre „Tochter der Zukunft“ stammen, sind weit entfernt und immer wieder ist da die Frage, ob man das Richtige tut, ob man es schaffen wird, mit einem Wesen, das wie aus einem anderen Universum scheint, Familie zu werden. Die Antwort ist ja, das weiß man von Beginn an und trotzdem ist Draesners Bericht spannend. Denn von Kapitel zu Kapitel ist man neugierig, was jetzt wieder für ein Problem auftaucht. Das ist oft weniger dramatisch als ziemlich witzig. Die Erzählerin fühlt sich in Sri Lanka wie ein „großer weißer Wurm“ und hofft, dass die Ablehnung durch das Kind kleiner wird, wenn sie nach ein paar Wochen Sonne etwas gebräunt ist. Fehlanzeige. Dann sind die Verdauungsprobleme wegen der für deutsche Mägen ungewohnten Gewürze und die ständige Suche nach einer Toilette (vor allem für Frauen unmöglich, die in der beschriebenen Gesellschaft weitgehend rechtlos sind).
Und was, wenn das Kind im unpassenden Moment, etwa bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen, seine Ablehnung brüllend äußert? Im Kinderheim, aus dem Mary stammt, haben sie hämisch gelacht, dass diese Deutschen das bockigste aller Kinder adoptiert haben ...
Draesner schildert in ihrer Adoptionsgeschichte vor allem ein Ringen um Nähe. Zu lesen, wie diese zunächst fremden Menschen einander Herz erobern, ist aufregend und ergreifend.
Mary ist fünf, als sie den so sehnlich gewünschten Satz sagt: „Mama, du bist mein Erdgeschoß.“