Stephen Kings Horror-Märchen: "Ein Haus wie ein Teufel"

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Stephen King hat „Hänsel und Gretel“ neu erzählt und das Märchen umgehend seinem eigenen Schreckens-Panoptikum einverleibt. Inspiration waren Illustrationen von Maurice Sendak.

Es fühlt sich ein bisschen wie bei „Friedhof der Kuscheltiere“ an: Wenn das Vertraute plötzlich entsetzlich wird. Im Kultroman von Stephen King kommt der geliebte, leider bald tote Kater Church von besagtem Kuscheltierfriedhof als Monster zurück. Und wenn sich Horrormeister King nun mithilfe der grausig-prächtigen Malereien des Künstlers Maurice Sendak ein altbekanntes Kindermärchen rund um ein Lebkuchenhaus vornimmt, wird es ebenfalls ziemlich monströs.

Menschenfresserin

Wobei man sagen muss: Schon die Brüder Grimm waren nicht zimperlich, als sie von Hänsel und Gretel berichteten. Zwei Kinder, die von ihrem Vater an die Stiefmutter ausgeliefert werden, die die Kinder nachts im Wald aussetzt. In weiterer Folge treffen die Geschwister eine Menschenfresserin, die sie einsperrt. Diese will den Hänsel fressen, Gretel wird zur Dienstmagd gemacht. Die Kinder überleben, weil sie die Alte zuerst mit einem Menschenknochen überlisten und dann in einem Backofen verbrennen. Eigentlich klassischer Stephen-King-Stoff, den die Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm vor mehr als 200 Jahren in ihren „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlichten.

Stephen King hat die Geschichte nun neu erzählt und sie umgehend seinem eigenen Schreckens-Panoptikum einverleibt. Er offenbart die wahre Identität der halb blinden Hexe, die täglich Hänsels Finger prüft, um zu sehen, ob er fett genug zum Schlachten ist, und dabei doch nur einen der zu Dutzenden herumliegenden Kinderknochen befühlt, die man ihr trickreich entgegenhält.

Sie heißt Rhea von Cöos, King-Kennern ist sie aus dessen Dunkler-Turm-Zyklus bekannt, einer achtbändigen Fantasy-, Science-Fiction-, Western- und Horror-Saga. Typisch für Stephen King, ist sie voller Verweise zu anderen Werken Kings und bietet literaturhistorische Bezüge von Poe bis Tolkien.

Diese Rhea-Hexe ist natürlich eine ziemliche Bestie. Im Turm-Zyklus hält sie sich eine Schlange als Haustier, in „Hänsel und Gretel“ ist es ein Raubvogel, der ihr beim Kinderstehlen hilft. Ebenso wie das als Lebkuchen-Zuckerlbude getarnte Hexenhaus. Es lockt die hungrigen Kinder mit einem rosaroten Entrée aus Bonbons, das, kaum hat es sich die Geschwister einverleibt, zur grausigen Riesenzunge wird. Schon bald frohlockt die Alte, dass es demnächst „Zeit zum Kinderkochen“ würde.

Diese bizarre Geschichte wird einerseits in moderner Sprache, andererseits dann doch im Grimm’schen Duktus erzählt: Stephen King beginnt mit „Es war einmal“ und endet mit „Und wenn sie nicht gestorben sind“. Auch klassische Vorlese-Reime wie „Knusper, knusper, knäuschen ...“ hat er beibehalten. Denn Vorlesen, schreibt er im Vorwort, war in der Familie King immer wichtig.

Am liebsten mochte man bei den Kings Maurice Sendak, dessen 1963 veröffentlichtes Buch „Wo die wilden Kerle wohnen“ ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur geworden ist. Sendak, Autor, Illustrator, und Bühnenmaler, starb 2012. Unter seinen Hinterlassenschaften waren Illustrationen für eine Bühnenversion von Hänsel und Gretel. Zu den eindringlichsten Bildern gehörten die böse Hexe auf ihrem Besen mit einem Sack voll entführter Kinder und das berüchtigte Lebkuchenhaus, das sich in eine fürchterliche Fratze verwandelt. Schauderhaft und grotesk zugleich. Zum Fürchten, aber irgendwie auch zum Lachen.

Als King diese Bilder sah, war ihm klar: Er wollte diese Geschichte neu erzählen, anhand der Bilder von Maurice Sendak. Denn ein „Haus wie ein sündenhafter Teufel, der seine Fratze nur zeigt, wenn die Kinder ihm den Rücken zudrehen“, diese Bilder sind nicht nur der Kern dieses Märchens, sie sind die Essenz von Stephen Kings Erzählen selbst.

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"Hänsel und Gretel" ist im Verlag Atlantis erschienen