Paul Lendvai: Ansichten eines Glückskindes

INTERVIEW MIT PAUL LENDVAI
Österreicher, Ungar, Jude, Europäer: Paul Lendvai über Identität, Politik im Großen und im Kleinen, was Andreas Babler von ihm lernen kann und darüber, was er für „undenkbar“ hält. .

Er ist so etwas wie eine lebende Legende des Politik-Journalismus. Paul Lendvai wird am 24. August 96 Jahre alt, hat gerade ein neues Buch geschrieben und denkt schon über das nächste nach. Am Weltgeschehen bleibt der langjährige ORF-Außenpolitik-Experte dran, denn „Golfspielen“ oder „aus dem Fenster schauen“, das kommt für ihn nicht in Frage.

KURIER: Ihr neues Buch heißt „Wer bin ich“. Das lässt sich beantworten. Sie sind österreichischer Patriot mit ungarischem Akzent und jüdischer Herkunft. Letzteres ist im Laufe Ihres Lebens immer wichtiger geworden.

Paul Lendvai: Es hat immer wieder eine größere und kleinere Rolle gespielt. Seit dem 7. Oktober 2023 wieder eine größere.

Sie haben lange gesagt: In erster Linie bin ich Mensch. Das verbindet Sie mit Bruno Kreisky, dessen Biografie Sie geschrieben haben.

Ich bin nicht so leidenschaftlich wie er in dieser Frage. Aber es war eine Verbindung. Unsere gemeinsame Abstammung hat mich auch ermächtigt, mit ihm zu streiten. Das hätte man sonst ja nicht gewagt. Ich habe ihn verstanden, und manchmal auch mit ihm gestritten, etwa über die Wiesenthal-Affaire. Aber das hat nichts an der Tatsache geändert, dass ich Österreich in der Waldheim-Geschichte verteidigt habe, ebenso in der ersten schwarz-blauen Koalition unter Wolfgang Schüssel.

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Paul Lendvai:
„Wer bin ich“
Zsolnay. 
123 Seiten.
25,95 Euro

Bruno Kreisky hat sich schon früh für die Palästinenser eingesetzt. Würden Sie rückblickend sagen, er hat Weitblick gehabt, oder sind damals auch Fehler passiert?

Er war weitblickend, das hat auch Schimon Peres (ehem. israelischer Ministerpräsident) gesagt.

Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass nun so viele sogenannte westliche Länder einen Staat namens Palästina anerkennen möchten?

Das ist billige Symbolpolitik. Und die Folge der Blödheit der verbrecherischen Netanjahu-Regierung. Die Terroristen bekommen, was sie wollen. Eine Katastrophe. Mithilfe der Heuchelei der UNO und der Medien, die bereits unmittelbar nach dem Terrorüberfall der Hamas vergessen haben, was dort passiert ist. Die Reaktion war schon nach wenigen Tagen gegen Israel. Da ist eine Tragödie und wird jahrzehntelange Folgen haben. Gleichzeitig interessiert es die Öffentlichkeit wenig, was im Sudan los ist oder wie viele Menschen jedes Jahr im Iran hingerichtet wurden. Ich habe auch noch nie gehört, dass chinesische Restaurants boykottiert werden, weil in China Hunderttausende Uiguren keine Rechte haben. Also das Getöse der UNO und anderer, das ist alles Heuchelei. Keine nationale Bewegung wurde so verunglimpft wie der Zionismus. Man hat in Israel ein Heim aufgebaut, nachdem sechs Millionen Menschen umgebracht wurden, ein unglaublicher Erfolg. Dass dieser Erfolg vernichtet wird, ist die Logik der Geschichte. Darüber hat die israelische Soziologin Eva Illouz eine ausgezeichnete Analyse geschrieben. Sie schreibt auch über die sogenannte Linke, von der man nicht so viele im Einsatz für die Ukraine gesehen hat. Dort werden täglich Existenzen vernichtet und in Moskau sitzt ein Verbrecher ersten Ranges.

Sie wurden als junger Journalist vom russischen Geheimdienst verfolgt. Wie geht es Ihnen denn damit, dass in Wien nach wie vor so paradiesische Zustände für Geheimdienste herrschen? Das war immer so. Überspitzt gesagt: Hier wurde immer mehr Geld für die Oper als für das Bundesheer ausgegeben und es klingt natürlich nett, in so einem Land zu leben. Aber bei uns sind Geheimdienst und Innenministerium ein Witz! Doch im Grunde ist diese Sache mit den Geheimdiensten wohl nichts anderes als die andere Seite der österreichischen Schlamperei. Es ist das Land von Kreisky und das Land von Waldheim, ich habe beide gekannt.

Sie haben sich in der Waldheim-Causa damals sehr engagiert. Finden Sie, dass ihm unrecht getan wurde?

Sicher. Österreich wurde damals unrecht getan. Aber die Sache hat das Land auch entscheidend weitergebracht bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Man hat bloß einen hohen Preis bezahlt.

Die Aufarbeitung war auch nicht unbedingt Kreiskys Sache, er hat den Mythos, Österreich sei das erste Opfer der Nazis gewesen, weitergetragen.

Ja, sicher. Ohne Kreisky hätte es keinen Haider gegeben.

Sie sind nach wie vor sehr informiert über das österreichische und das internationale politische Geschehen.

Bin ich, ich schreibe auch viel darüber, erst heute wieder einen Kommentar über Trump im Standard.

Kommt nie ein Punkt, wo Sie sagen: Das interessiert mich jetzt nicht mehr?

Das wäre undenkbar. So lange mein Kopf arbeitet und die Leute glauben, was ich sage und so lange Zeitungen das abdrucken, was ich schreibe, so lange werde ich das auch machen. Golfspielen oder aus dem Fenster schauen, das wäre nichts für mich.

Lesen Sie täglich Tageszeitungen?

Ich lese jeden Tag KURIER, Krone, Presse, Standard. Und dann lese ich die FAZ, die Süddeutsche, die Neue Zürcher, die Financial Times und eine halbwegs leserliche ungarische Oppositionszeitung. Le Monde lese ich nicht mehr. Außerdem lese ich die Zeit, den Economist, den Spiegel und das Profil.

Also Ihretwegen gäbe es keine Zeitungskrise.

Nein, es ist wichtig, zu wissen, was los ist.

Viele Leute sagen, bald gibt es keine Zeitungen mehr.

Der Abgesang auf das gedruckte Wort hat schon mit der Erfindung des Buchdrucks begonnen. Ich glaube nicht daran.

Wenn man sich Ihre Lebensgeschichte anschaut, dann sieht man, dass Sie, vorsichtig gesagt, sehr viele Krisen überwunden haben. Sie sind der Shoah entkommen, Sie waren in einem kommunistischen Arbeitslager, Sie haben Berufsverbot gehabt. Sie haben in Österreich nach dem Ungarnaufstand bei Null wieder angefangen. Und doch fällt auf, dass Sie immer davon sprechen, dass Sie sehr viel Glück gehabt haben. Das klingt demütig.

Es ist aber so. Ich habe Glück gehabt. Wenn Stalin nicht gestorben wäre, 1953, dann hätte ich Jahre im Internierungslager verbracht. Wenn Chruschtschow nicht gekommen wäre, wäre ich nicht rehabilitiert gewesen. Natürlich habe ich Entscheidungen getroffen. Die wichtigste Entscheidung war, dass ich 1957 Ungarn verlassen habe und nicht zurückgegangen bin. Das war die schwierigste Entscheidung meines Lebens, weil ich meine Eltern, die mich über alles geliebt haben, zurückgelassen habe. Aber es war meine Entscheidung, nicht mehr mit der Lüge zu leben. Ich war ein politischer Flüchtling ersten Ranges. Ansonsten habe ich Glück gehabt. Dass ich überlebt habe, dass ich nicht in der Wohnung war, als russische Granaten meine Bibliothek zerstört haben, dass ich meine zweite Frau getroffen habe, die mir sehr, sehr viel geholfen hat. Ja, ich habe Glück gehabt, das muss man zu schätzen wissen.

Sie haben immer wieder thematisiert, wie freundlich die ungarischen Flüchtlinge nach dem Ungarnaufstand 1956 in Österreich aufgenommen worden sind. Wäre das auch heute noch so? Haben sich die Österreicher verändert?

Es gibt so etwas wie die Österreicher nicht. Ebenso wenig, wie es die Kärntner gibt. Wenn ich an die Sache mit dem Peršmanhof (Gedenkort der Kärntner Slowenen, wo ein umstrittener Polizeieinsatz stattfand) denke! Solche Dummköpfe!

Sehen Sie irgendwo auf der Welt politische Hoffnung?

Es ist alles sehr wechselhaft. Macron hat sehr gut angefangen. Auch Merz. Jetzt machen sie einen Fehler nach dem anderen. Aber weil Sie nach dem Guten fragen: Der deutsche Philosoph Hegel hat einmal gesagt, in der Geschichte gibt es die Perioden des Glücks, und sie sind leere Blätter. Der Frieden ist zerbrechlich. Ich war bei einem Fußballballmatch in Budapest, als die Deutschen Ungarn besetzt haben. Am nächsten Tag war alles anders. Man hat keine Ahnung, was einen erwartet. Kaum war ich nach fünf Jahren aus der Haft entlassen, brach am nächsten Tag die Revolution aus. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube, wir haben ein Glück mit diesem Bundespräsidenten und wir haben Glück, dass wir jetzt diese Dreierkoalition haben. Ich mag den Stocker, der ist ein Glücksfall. Und die Meinl-Reisinger macht auch einen guten Eindruck. Meine Frau sagt, sie spricht so, als ob sie die amerikanische Außenministerin wäre. Und der Babler schweigt. Das ist auch gut. Vielleicht lernt er und gewöhnt sich das mit den Phrasen ab. Er hat mich immer an meine Jugend erinnert. Ich habe auch so gesprochen, als ich 17, 18 Jahre alt war.

Woher nehmen Sie Ihre Energie? Wie bleibt man mit fast 96 so aktiv? 

Wie gesagt, ich habe Glück.