Paul Lendvai: "Freiheit kann man nicht essen"
Er gehört zum Inventar der heimischen Wohnzimmer wie früher nur Hugo Portisch oder der Verhaltensforscher Otto König: ein Erklärer, der mit seinem unverkennbaren Akzent aus dem Fernsehapparat sprach und politische Umbrüche und Zusammenhänge verständlich machte. Am 24. August wird Paul Lendvai 90. Mit dem KURIER sprach der Journalist und Buchautor an seinem Sommersitz in Altaussee über die historischen Tage 30 Jahre davor, die zum Ende der Teilung Europas führten, über Populisten, die folgten, und über Bäume, die nicht in den Himmel wachsen.
Am 19. August 1989 hat Ungarn Hunderte Ostdeutsche in den Westen ausreisen lassen – der Anfang vom Ende des totalitären Osteuropa. Was haben Sie, der gut 30 Jahre vorher aus Ungarn geflüchtet ist, da empfunden: Freude, Stolz auf „ihre“ Ungarn, Genugtuung?
Paul Lendvai: Natürlich Freude. Und Überraschung.
Stolz nicht?
Es war Ministerpräsident Miklos Nemeth, der mit Gorbatschow den Abzug der Sowjet-Truppen aus Ungarn verhandelt und das mit Außenminister Gyula Horn alles ermöglicht hat. Nemeth nimmt an den Feierlichkeiten übrigens nicht teil, weil das alles vom jetzigen Regime (Orban, Anm.) vereinnahmt und die Geschichte umgeschrieben wird. Damals war das eine Art Generalprobe für das, was später passiert ist ...
Der Fall der Mauer.
... ja, aber es war keine bewusste Generalprobe, darum hat es auch nicht so viel Wirbel hervorgerufen. Die DDR-Urlauber am Plattensee, die ausgereist sind, waren in Ungarn auch gar nicht so populär. Es gab immer einen Unterschied zwischen den Urlaubern mit harter Währung und denen aus sogenannten Bruderländern.
Haben Sie geahnt, dass das Monate später zum Fall der Mauer führen würde?
Nein, ich habe nie geglaubt, dass die Sowjetunion diese „Beute“, die DDR, aufgeben würde. Weil es war klar: Wenn die DDR fällt, dann ist ganz Osteuropa weg.
Und dann ging es doch verhältnismäßig schnell, die Mauer fiel am 9. November.
Es haben alle Radiostationen, von Radio Freies Europa bis BBC, über die Grenzzaunöffnung berichtet. Das wurde bis weit in den Osten hinein gehört und hatte eine unglaubliche Wirkung, die wir damals noch nicht ahnten.
Was wir auch nicht ahnten: Dass die Zeit offenbar schon überreif war.
Es gibt eine Kurzgeschichte von William Sommerset-Maugham über jemandem, der im Urwald auf ein wunderschönes Holzhaus stößt. Er geht näher, greift das Geländer an – und das Haus zerfällt, weil es die Termiten innen schon aufgefressen haben. Diese Termiten im Osten waren die Aufrüstung und die Unfähigkeit der Wirtschaft.
Nach dem Mauerfall war Osteuropa – abgesehen vom Jugoslawien-Krieg – zunächst eine Erfolgsgeschichte.
Sicher, der Zusammenbruch der kommunistischen Regime, Demokratisierung und Freiheit. Aber die Freiheit kann man nicht essen. Es sind neben den Fassaden auch gewisse Errungenschaften zusammengebrochen, die Vollbeschäftigung oder die soziale Sicherheit. Man fand sich im Dschungel wieder mit ungeheuren Chancen, Gefahren und Gegensätzen: Da gab es die Neureichen, die schnell waren und enormes Vermögen machten, und die anderen, die das nicht taten.
Demokratie und Freiheit wiegen nicht so viel wie Sicherheit und Staatsobhut?
Das erklärt die Ostalgie, und dann die Sehnsucht nach dem starken Mann.
Sie haben geschrieben: „Die nach der Wende erhoffte Verwestlichung fand nur in den Auslagen, aber nicht in den Köpfen statt.“ Warum nicht?
Wir reden über Länder, wo es keine Demokratie gab. Die Erziehung, die Schulen, die Bücher ... – Ralf Dahrendorf hat sehr klug geschrieben, man kann in sechs Monaten ein Regime stürzen, in sechs Jahren die Wirtschaft verändern, aber es braucht 60 Jahre, um die Sitten, die Einstellungen zu ändern.
Dann kam der Trend zu Nationalisten und Populisten, wie sie heute Polen oder Ungarn regieren. Wieso?
Es gibt wie immer mehrere Gründe, und es sind sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Ungarn etwa gab es, anders als in Bulgarien oder Tschechien, keine Wende, sondern ein friedliches Hineinwachsen von der Unfreiheit in die Freiheit. Aber was fast überall kam, war Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen, die Menschen waren nackt, sie mussten neue Kleider anziehen: die Kleider der Freiheit, der Konkurrenz, der Marktwirtschaft. Die Distanzierung, die Aufarbeitung der Vergangenheit hat ja auch anderswo, denken Sie an Österreich, Jahrzehnte gedauert. Und im Osten waren die Menschen den starken Mann an der Spitze lange gewohnt.
Orban & Co. profitieren von der totalitären Vergangenheit?
Ja sicher. Aber das ist anderswo auch so, schauen sie Italien und Mussolini an und jetzt Salvini, den Mann, der nichts hat außer ein Mundwerk und einen Bauch, wobei Letzteres sympathisch ist.
Im Westen gibt es Rechtspopulismus auch. Haben die politischen Eliten versagt?
Nein, im Westen hatten wir eine ungeheure Erfolgsgeschichte, ich durfte das in Österreich erleben. Aber wir haben alle gedacht, das wird so weiter gehen, und in Wirklichkeit sind die Perioden des absoluten Glücks begrenzt, die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Die Globalisierung, die Kommunikationsrevolution hat alles verändert und verunsichert. Der Populismus fällt daher nicht nur bei den Armen, sondern auch bei Wohlhabenden auf fruchtbaren Boden.
Die klassische Verlustangst?
Ja klar. Und dann kommt jemand und verspricht Ordnung, Ruhe, Stabilität.
Die Migrationswelle spielt auch eine Rolle.
Natürlich. Ich ärgere mich nur immer über die Vorurteile gegenüber Zuwanderern. Wenn ich mich an meinen Spitalsaufenthalt nach meinem Herzinfarkt erinnere, ohne die Ärzte und Helfer aus dem Ausland wäre ich nicht mehr am Leben. Dass Flüchtlinge 2015 dann in diesem Ausmaß nach Europa kamen, ist übrigens nicht die Schuld Merkels, sondern Viktor Orbans, der die Züge mit Flüchtlingen losgeschickt hat. Merkel und andere haben dann keine Schritte unternommen, den Flüchtlingsstrom unter Kontrolle zu bringen, und ihr Selfie mit Flüchtlingen war ein Fehler.
Balkanroute schließen, Migration weitgehend unterbinden war die Antwort?
Da kämpfen Menschlichkeit und Nüchternheit ununterbrochen miteinander . Wir können nicht Millionen aufnehmen, das ist unmöglich.
In Österreich wurde der türkis-blauen Regierung auch schon „Orbanisierung“ vorgeworfen, das Ibiza-Video zeigt, wie sich die FPÖ Medien gefällig machen wollte.
Ich war glücklich, als ich von dem Video hörte, weil ich wusste, das ist das Ende dieser Regierung. Das Video zeigte, was möglich gewesen wäre. Da war eine Partei Teil der Regierung, die mit der russischen Staatspartei ein Abkommen hat. Das Abkommen bedeutet nicht, dass man tanzt, sondern dass die österreichische Außenministerin vor dem ehemaligen Oberstleutnant des KGB auf die Knie fällt. Wenn man weiß, wie der russische Einfluss überall wächst, weiß man, wie gefährlich das ist.
Und „Orbanisierung“
Nein, das kann man gar nicht vergleichen.
Sebastian Kurz wird nach allen Umfragen die Wahlen gewinnen. Was wünschen Sie sich für eine Konstellation danach?
Eine Regierung, die aus dem Ibiza-Video und den Gefahren gelernt hat.
Sebastian Kurz ist lernfähig?
Das ist die Millionen-Frage, ob diese unglaubliche Kommunikationsbegabung politisch daraus lernt und versteht, mit wem er ins Bett geht und mit wem nicht. Die FPÖ ist ein problematischer Partner. ÖVP, Neos und Grüne wären mir sehr lieb.
Paul Lendvai, am 24. August 1929 in Budapest als Sohn jüdischer Eltern geboren. 1944 verschleppt, knapp überlebt. Nach dem Ungarn-Aufstand nach Wien geflohen (1957). Seit 1959 österr. Staatsbürger. Journalist u. a. für die „Financial Times“. Lendvai gründete die „Europäische Rundschau“. Weitere Stationen: Leiter ORF-Osteuropa-Redaktion, Intendant Radio Österreich International, Moderator „Europastudio“. Autor von 18 Büchern und Träger von noch mehr Auszeichnungen. Er lebt mit seiner dritten Frau Zsoka in Wien und Altaussee
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