Geromino kommt aus der Cree-Gemeinschaft, er ist einer der vielen Autochthonen, die in Montréal auf der Straße leben. Montréal, die größte französischsprachige Stadt Nordamerikas, eine Insel im Sankt-Lorenz-Strom, auf die der Franzose Jacques Cartier 1535 als erster Europäer seinen Fuß setzte und sie, weil sich in ihrer Mitte ein Hügel befand, zu Ehren seines Königs „Mont Royal“ nannte. Dabei übersah er, dass die Siedlung bereits einen Namen hatte: Die dort beheimateten Mohawks hatten ihr Dorf „Tiohtiá:ke“ genannt.
So heißt die Stadt immer noch für die Autochthonen (auch: Premières Nations), die in der frankokanadischen Provinz Québec leben und so nennt auch der Autor und Journalist Michel Jean seinen jüngsten Roman. Er erzählt darin viel über die Geschichte der Stadt, im Besonderen aber über die Angehörigen autochthoner Nationen wie Innu, Cree oder Inuit. Tausende von ihnen leben obdachlos in Montréal, viele haben sich, wie hier im Roman, zu einer Gemeinschaft zusammengefunden. Michel Jean ist selbst Innu und berichtet in seinen Romanen immer wieder von der Zeit, als die kanadische Regierung versuchte, seine Vorfahren zu „zivilisieren“, ihnen verbot, ihre Sprache zu sprechen, sie von ihrer Kultur abschnitt und ihnen ihre Kinder wegnahm, um in kirchlichen Umerziehungsanstalten deren „inneren Indianer“ oder „Wilden“ zu töten. Die letzte dieser Internatsschulen wurde 1996 geschlossen. 2021 wurden Überreste von Leichen Tausender indigener Kinder in Massengräbern in der Nähe ehemaliger Umerziehungsinternate gefunden. Wer die Misshandlungen überlebte, war für immer gezeichnet. Heute leben unzählige Indigene ohne festen Wohnsitz auf den Straßen kanadischer Großstädte.
„Tiohtiá:ke“ schließt an den Vorgängerroman „Maikan“ an, der von den Verbrechen in den Umerziehungsanstalten berichtet. Eine journalistisch genau recherchierte Geschichte, die sich jedoch die Romanfreiheit nimmt, für ihre Protagonisten, vor allem den jungen Innu Élie Mestenapeo, auch ein bisschen Glück bereitzuhalten.
Nur selten blitzt Hoffnung auf Glück in der Novellensammlung „Wapke“ auf, die Michel Jean als Herausgeber verantwortet. Dreizehn Autorinnen und Autoren verschiedener Premières Nations formulieren hier ihre Vorstellungen von Zukunft. Sie sind recht ernüchternd. Da heißt es etwa bei Marie-Andrée Gill, dass das ganze Gerede von „Zivilisation“ doch recht lustig sei – weil diese Welt nie besonders zivilisiert gewesen ist.
Man kann ihr nicht völlig unrecht geben, aber immerhin, ein paar Lichtblicke gibt es: In Québec kennt mittlerweile so gut wie jeder den Innu-Gruß „Kuei“ – so grüßt der Autor und Starmoderator Michel Jean täglich seine Zuseher in den französischsprachigen Fernsehnachrichten.