Lawrence Ferlinghettis Reisenotizen: Als die Welt frei und Wien schön war
Ha, entfährt es einem, wenn man das liest. Endlich einer, der es begriffen hat: Die Wiener sind ein freundliches Volk!
Im September 1986 reist der amerikanische Schriftsteller Lawrence Ferlinghetti nach Wien. Dort geht er ins Café Hawelka, wird von einer „freundlichen alten Dame“ platziert (die resolute Josefine Hawelka hatte wohl einen guten Tag) und frohlockt: „Wunderschönes Wien mit seinen wunderschönen Menschen.“ Einzig der Abend in der Oper kommt ihm merkwürdig vor. Bei einer Turandot-Vorstellung ortet er eine „Versammlung von blutrünstigen Koksern“.
Der bemerkenswerte Wien-Besuch ist eine Anekdote aus Ferlinghettis nun auf Deutsch veröffentlichten „Notizen aus Kreuz und Quer“ – Reiseaufzeichnungen von 1960 bis 2010. Es sind Transkripte des handschriftlichen Reisetagebuchs eines Mannes, der, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg volljährig geworden, sein Leben lang in der Welt umherstreifte und eine Art Heimat in San Francisco fand, wo er im Februar 2021 im Alter von 102 Jahren starb – nachdem die „Tage und Jahre im großen Schlund der Zeit verschwunden“ waren.
Lawrence Ferlinghetti wurde 1919 in der Nähe von New York geboren und irgendwann in San Francisco, als dieses noch „eine kleine provinzielle Hauptstadt war“, erwachsen. Wenn Ferlinghetti, der Wurzeln in Italien und Frankreich hatte, nicht umhervagabundierte, suchte er nach „Meisterwerken von Autoren“, um sie bei City Lights zu veröffentlichen.
City Lights, das war und ist eine berühmte unabhängige Buchhandlung und ein Kleinverlag in San Francisco, den Ferlinghetti 1953 gründete, um dort Bücher von Dichtern der Beat Generation wie Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac zu veröffentlichen.
San Francisco hat sich seither ziemlich verändert. Das benachbarte Silicon Valley hat der Stadt, die als Zentrum der Beat Generation und der „Flower-Power“ galt, eine hohe Millionärsdichte beschert. Und damit verbunden horrende Lebenserhaltungskosten und viele Obdachlose.
Kerouac und Co könnten sich ihr Leben, das den Idealen von Freiheit und Individualität verpflichtet war, dort heute nicht mehr leisten. Der Bookstore aber sieht mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Eröffnung noch so aus wie damals. Und nach wie vor feiert man in der Stadt jeden 24. März den Geburtstag des Bookstore-Gründers, den „Lawrence Ferlinghetti Day“: eine Erinnerung an Zeiten des Aufbruchs und der Freiheit.
Das ist gewiss auch Ferlinghettis Reisetagebuch. Ob die Welt damals wirklich freier und unbelasteter war? Mag sein. Vielleicht waren es aber auch Gras, Hasch und LSD, von denen Ferlinghetti ausführlich schreibt, die die Welt bunter und die Wiener so schön und freundlich erscheinen ließen.