Julian Barnes setzt Dr. Pozzi gegen die Selbstgefälligen ein

Julian Barnes setzt Dr. Pozzi gegen die Selbstgefälligen ein
Belle Époque: „Der Mann im roten Rock“ ist vieles, nur Roman will er nicht sein

Dem amerikanischen Maler John Singer Sargent war Dr. Pozzi herzlich egal.

Ihm ging es um den roten Mantel. War es ein Morgenmantel? Jedenfalls war der Mantel die künstlerische Herausforderung (Das Ölgemälde „Dr Pozzi at Home“ aus dem Jahr 1881 ist heute im Besitz des Hammer Museums in Los Angeles; auf dem Buchcover sieht man einen Teil davon.)

Hingegen: Julian Barnes – kürzlich wurde er 75, Foto oben – braucht den Arzt Dr. Samuel Pozzi.

Grenzenlos

Ihn setzt er gegen die Dummheit ein.

Der frankophile Engländer Julian Barnes setzt „seinen“ anglophilen Franzosen jenen Engländern entgegen – nicht Briten! darauf legt er Wert! –, die selbstgefällig sind und sich für „dieses andere “ nicht interessieren.

Bzw. der politischen Elite, die den Brexit möglich gemacht haben.

Von Dr. Pozzi ist der Satz überliefert: Chauvinismus ist ein Erscheinungsbild der Ignoranz.

Barnes’ war zuletzt großartig in „Der Lärm der Zeit“, als der Komponist Schostakowitsch auf seine Verhaftung durch Stalin wartete.

Sein aktuelles Buch ist:

a) ein Plädoyer für den Austausch, für grenzenlose Kunst;

b) ein Porträt des stets wissbegierigen, fortschrittlichen, reichen, damals berühmten und selbstverständlich in London seine Kleidung kaufenden Dr. Samuel Pozzi („Vater der Chirurgie in Paris“ einerseits, andererseits ein „Modearzt“, der mit dem Präsidenten auf die Jagd ging);

c) ein Porträt der französischen Belle Époque, „dekadent, hektisch, narzisstisch, neurotisch„ (Julian Barnes).

Und blutig! In England waren Duelle um 1900 verboten, in Frankreich aber wurde emsig geschossen oder gefochten – da konnte schon eine Auseinandersetzung darüber reichen, ob Sarah Bernhardt sehr dünn oder nur dünn war, als sie Hamlet spielte.

„Der Mann im roten Rock“ ist anscheinend alles – nur Roman ist das keiner.

Barnes bemüht sich, diese Überfülle an gut recherchierten, schön ineinander fließenden Informationen mit Anekdoten anzureichern. Auch gibt es zur Auflockerung alte Fotografien in bester Qualität.

Schon beim Aufzählen der handelnden Personen werden Köpfe zu rauchen anfangen: Flaubert, Maupassant, Huysmans, die Brüder Goncourt, Oscar Wilde, Marcel Proust ... als Wilde bei Proust eingeladen war, lief er vor dem Essen weg, nachdem er zu Prousts Eltern gemeint hatte: „Wie hässlich Ihr Haus ist!“

Pozzi war überall, er lud sich in der Welt mit Wissen auf – in Amerika studierte er u. a. Duschen in Spitälern, in Wien war er wegen der „Lustigen Witwe“ etc.

Seine Karriere als Don Juan begann mit Sarah Bernhardt. Es wird auch (das ist Punkt d) viel um Sex gehen. Sogar sein Ende 1918 hatte damit zutun: Er konnte die Impotenz eines Patienten nicht beheben. Und?

Drei Pistolenkugeln.

 

Julian Barnes: „Der Mann im
roten Rock“
Übersetzt von
Gertraude
Krueger.
Verlag Kiepenheuer & Witsch.
304 Seiten.
24,70 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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