Julia Schochs Romane gehören zum Klügsten, das man derzeit über das Leben an sich lesen kann. Wie die meisten Schriftsteller macht sie aus Erlebtem Literatur. Sie thematisiert ihr Aufwachsen in der DDR und das Verschwinden dieses Staates, der in ihrem und im Leben ihres Mannes immer durchschimmert. Dass man dem Erlebten und der Erinnerung daran nicht trauen sollte, gehört zu den Grundpfeilern ihres Schreibens. Die Liebe? Ist wahrscheinlich am Ende das einzig Wichtige. Und doch, sagt die 50-Jährige, solle man sie und vor allem die Erinnerung daran nicht überschätzen.
In „Das Liebespaar des Jahrhunderts“, Teil zwei ihrer Trilogie, steht ein Paar, das seit 30 Jahren zusammen ist, vor dem Ende. Eines Abends kommt die Erzählerin nach Hause und beobachtet ihren Mann, wie er stumm auf die kahlen Bäume vor dem Fenster schaut. Er habe immer geglaubt, sagt er schließlich, dass es im Leben darum gehe, zu einem gebildeten Menschen zu werden, um am Ende die Gesellschaft besser zu machen. In Wahrheit aber gehe es bloß darum, halbwegs über die Runden zu kommen. Sie, froh, nicht über die Beziehung reden zu müssen, sagt: „Jeder lebt sein Leben“ und denkt: „Vielleicht haben wir in all den Jahren nur die Zeit bis zur nächsten Revolution überbrückt.“ Schon möglich, „dass die Liebe ein Warten gewesen ist. Ein Warten auf etwas, das größer ist als wir.“
Das tut ein bisschen weh. Wo sich dieses Paar doch einmal als „das Liebespaar des Jahrhunderts“ bezeichnet hatte. Doch ebenso stark wie die Melancholie ist der Humor in diesen Sätzen und so klug das alles ist: Es liest sich mühelos. Schochs Erzählen von Liebe ist gewiss kein „Warten auf Größeres“.
Die Erinnerung trügt
Julia Schoch hat ihre Trilogie 2022 mit dem Roman „Das Vorkommnis“ über ein Familiengeheimnis begonnen. Ihre Bücher sind in gewisser Weise autobiografisch. Ihr Mann, ein Historiker, muss damit zurechtkommen, dass auch sein Leben besprochen wird. Anders allerdings als bei einem Karl Ove Knausgård werden Leben hier nicht seziert, Schoch schreibt auch nicht über jede Gurkenscheibe, mit der sie ihr Brot belegt. Ihre Romane bleiben Romane. Auch, weil sie von möglicherweise falschen Erinnerungen handeln, von unterschiedlichen Wahrnehmungen und den Konsequenzen, die auch Jahrzehnte später noch ihren Weg bahnen können. Die fremde Frau etwa, die sie in Band eins bei einer Lesung anspricht und die sich als ihre Halbschwester herausstellt, hat das Leben der Erzählerin auf den Kopf gestellt, während ihr Mann davon seltsam unberührt blieb. Ob es normal ist für ihn, mit derartigen Geheimnissen umzugehen? Hat auch er ein Doppelleben zu verbergen?
„Ehrlichkeit ist eine Maske“, heißt es nun im dritten Teil „Wild nach einem wilden Traum“, in dem es um die Begegnung mit einem katalanischen Schriftsteller geht, den die Autorin einst in den USA kennengelernt hatte und von der eine vage Erinnerung blieb: „Ungefähr so machten wir es, der Katalane und ich.“
Das Ringen um einen gemeinsamen Vergangenheitsnenner, der für Gemeinschaften so wichtig ist, steht immer im Zentrum des Schreibens von Julia Schoch. „Das Wesentliche ist unsere Geschichte.“ Doch ihre Antwort auf die Frage, ob sich alles wirklich so zugetragen habe, lautet: „Die Wirklichkeit ist nie eine Begründung für Literatur.“
Oft renne man ausgerechnet an dem Moment, an dem man eine klare Entscheidung treffen könnte, vorbei und „irgendwann, später, dreht man sich um und ist erstaunt“.