Sie spielt in einem Land, in dem Rechtsextreme Polizeichefs werden und in dem die Pornografie von der Mythomanie, dem zwanghaften Lügen, abgelöst wurde. Bei den Miss-America-Wahlen tritt eine Kandidatin in paillettenbesetzter Ku-Klux-Klan-Robe an und man ist sich sicher: Weder die Mondlandung noch John F. Kennedy haben je existiert und wenn, dann war Letzterer ein Schwarzer.
In diesem Land, in diesem „America Fantastica“, überfällt ein Mann namens Boyd Halverson eine kleine, privat geführte Bank in Nordkalifornien, klaut 81.000 Dollar (obwohl er ohnehin fast so viel auf seinem dortigen Konto hat, er wollte bloß einen Punkt hinter sein bisheriges Leben setzen) – und entführt die Kassiererin. Zumindest Letzteres wird er noch oft bereuen, denn er wird sie nicht los. Angie Bing, keine 1,50 groß, ist tiefgläubig, schnattert den ganzen Tag vor sich hin „als würde ihre Zunge im Stromnetz von L.A. stecken“ und sagt dabei Dinge wie: „Wenn du unbedingt fluchen musst, ruf den Teufel an.“
Ihre Liebe zu Gott hindert sie nicht daran, auch ihren Verlobten namens Randy zu lieben, ein grenzdebiler Kleinkrimineller. Wobei man im Lauf der Geschichte das Wort „Klein-“ wird wegnehmen müssen. Über Randys beachtliches Register an Schwerverbrechen wird die gute Angie sagen: „Mord? „Randy kann manchmal ungestüm sein.“
Korrupte, kaputte Typen
Dieser Randy-Trottel folgt Angie und Boyd auf ihrem Trip quer durch die USA. Ziel ist zunächst Malibu, wo Boyd aufgewachsen ist, allerdings nicht da, wo Reich und Schön leben. Ganz im Gegenteil, weswegen Boyd sich ein glamouröseres, heldenhafteres Leben erfunden hat. Nicht einmal sein Name stimmt. Als Reporter hat er es trotzdem oder gerade deshalb weit gebracht. Neben beruflichem Ansehen war ihm auch privates Glück gegönnt. Glück auf Zeit. Bei dem Typen, der es vor zehn Jahren zerstört hat, will er sich jetzt rächen. Das Ganze gerät natürlich außer Kontrolle. „Pass auf“, heißt es an einer Stelle, „der Typ ist mies“. „Ich bin mieser“. Korrupte, Banker, kriminelle Unternehmer, deprimierte Erbinnen, gewitzte Fitnessstudio-Betreiberinnen treten auf, ihre Schicksale werden raffiniert mit der Hauptgeschichte verwoben.
Tim O’Brien, 1946 in Minnesota geboren, ist insbesondere für seine Storys über den Vietnam-Krieg bekannt, er wurde 2013 für sein Lebenswerk in der Militärliteratur ausgezeichnet. Mit dem gesellschaftskritischen Roman „America Fantastica“ gelingt ihm eine schlagfertige, witzige, toll gebaute Geschichte über einen, der im Leben scheinbar alles verloren hat. Der sich durchwurschtelt und bei genauem Hinsehen eigentlich der einzig integre Mensch weit und breit ist, Bankraub hin oder her.
Politisch gesehen eher ernüchternd – O’Brien hat den neuerlichen Wahlsieg Trumps vorausgesehen – ist dieser rasante Roadtrip, der im Ton an T. C. Boyle erinnert, aber nicht hoffnungslos. Zwar muss die Freiheitsstatue, auch so eine Ausländerin, Amerika verlassen und fristet ihr Dasein künftig in den Kellern des Louvre. Aber immerhin werden Atheisten zu Pantheisten, auf Verbrechen folgt Strafe und man kann mit Geld noch nicht alles kaufen. Nicht einmal in diesem fantastischen Amerika.