Argentinien in den 1940er-Jahren. In der Stadt La Plata nahe Buenos Aires wachsen die verhaltensauffällige Yuna (sie beschreibt sich selbst als „minderbemittelt“) und ihre schwerbehinderte Schwester Betina bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Die Verhältnisse sind beengt, und irgendwie scheint keiner in der Familie das große Los gezogen zu haben. Geld hat niemand, und auch die Cousinen sind nicht das, was als „normal“ bezeichnet wird. Sechs Zehen an jedem Fuß und auch sonst keine Schönheiten. Was lüsterne Männer nicht davon abhält, sich an die Halbwüchsigen heranzumachen. Auch Yuna bleibt davon nicht verschont. Abgesehen davon gilt sie als „nicht ganz richtig im Kopf“, verlässt die Schule früh und findet als Malerin Anerkennung. (Nur nicht bei der blöden Tante.)
Yuna ist die unverblümte Erzählerin des radikalen Familienromans „Die Cousinen“. Erbarmungslos berichtet sie, in durchaus ungewöhnlicher Syntax, vom Aufwachsen in einer düsteren Welt, in der man sich zu helfen wissen muss – ganz wie ihre kleinwüchsige Cousine Petra, die sich schon mit zwölf mit vielem, was Gott und alle anderen verboten haben, auskennt.
Die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini (1922–2015) war 85, als sie diesen harten, schwarzhumorigen Roman schrieb. Hauptberuflich war die gelernte Psychologin in der Jugendarbeit, unter anderem in der Rehabilitation von Minderjährigen, tätig. Seit den 1940ern schrieb sie Romane und Gedichte. Bei uns kannte man sie kaum, es gab keine Übertragungen ins Deutsche. Ihr letzter Roman „Die Cousinen“, in Argentinien preisgekrönt, wurde 2022 übersetzt. Johanna Schwering wurde dafür ausgezeichnet. Sie übersetzt Venturinis oft sonderbaren, irritierenden Bilder perfekt ins Deutsche.
Die Stadt La Plata, kleinwüchsige Verwandte und eine unangepasste Erzählerin, die auf politische Korrektheit pfeift: Das ist auch der grobe Umriss des nun erschienenen Romans „Wir, die Familie Caserta.“
Die Greisenseele
Düster, komisch, faszinierend ist die Welt, in der Chela, ungeliebte Tochter aus gutem Hause, aufwächst. Mager und unbändig, ist sie schon als Kind nicht das, was sich die Eltern vorstellen. Am Ende, nach einem Leben des Herumvagabundierens zwischen La Plata, Rom und Paris, ist das unverstandene Wunderkind allein mit ihrer „zwergisch-proustschen Greisenseele“. Ihre einzigen ständigen Begleiter: Schildkröte Bertha und Gedichte von Rimbaud.
Aurora Venturini, schreibt die Journalistin Mariana Enriquez im Nachwort der „Cousinen“, muss eine außergewöhnliche Person gewesen sein – die ihr schräges Image pflegte. Es hieß, sie sah Gespenster und hielt Spinnen als Haustiere. Zu ihren Freunden zählten Evita Perón, Jorge Luis Borges und ein exorzistischer Priester.
Die meisten ihrer Romane seien autobiografisch, sagte Venturini. Und ergänzte: „Ich bin kein Familienmensch.“ Wer die vorliegenden Romane gelesen hat, wird davon wenig überrascht sein. Als Venturini nach Jahrzehnten des Schreibens für „Die Cousinen“ gewürdigt wurde, meinte sie stoisch: „Ich bin eine großartige Schriftstellerin, vielleicht die beste, und das ist nicht mein bestes Buch. Lest erstmal den Rest.“