Brexit-Talk im ORF: "Verstehen Sie? - Sie verstehen nicht."
*Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des Fernsehabends*
Die Scheidungspapiere sind nun unterfertigt, aber der "Rosenkrieg um Macht, Geld und Privilegien" ist damit noch nicht zu Ende, wie Moderatorin Claudia Reiterer zu Beginn von „Im Zentrum“ sagte. Man diskutierte am Küniglberg diesmal das Thema: „Brexit: ziemlich beste Scheidung?“
Eines kann man vorwegnehmen: Alle in der Diskussionsrunde waren der Meinung, dass das keine gewinnbringende Scheidung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird. Es werde nur Verlierer geben.
Der Tenor war außerdem, dass Premierministerin Theresa May den Austrittsvertrag mit ziemlicher Sicherheit nicht durch das britische Parlament bringt, zumindest nicht im ersten Versuch.
Am Ende hörte man Reiterer sagen: „Das war ja viel lebhafter, als ich gedacht habe.“ Offenbar hatte sie sich von der Expertenrunde mit einem (Regierungs-)Politiker pure Sachlichkeit erwartet.
Streitbarer „Käpt’n Ahab“
Geradezu diplomatisch agierte zunächst Gernot Blümel in seiner Funktion als Europaminister. Der ÖVP-Politiker hätte am Sonntagabend überhaupt gern den Erklärer und „honest broker“ hervorgekehrt, der im Sinne der EU-Ratspräsidentschaft möglichst neutral agiert.
Ganz durchziehen konnte Blümel das aber nicht, weil in der Runde ein Mann saß, der in Deutschland als einer der streitbarsten Wirtschaftswissenschaftler gilt. Hans-Werner Sinn, ehemaliger Chef des Ifo-Instituts, wird nicht nur aufgrund seines speziellen Bartschnitts mit dem Spitznamen „Käpt’n Ahab“ versehen. Sinn trägt seine Hypothesen mit Bestimmtheit vor und pflegt zuweilen einen bärbeißigen Diskussionsstil.
Seiner Ansicht nach gibt es keine langfristige Lösung für die Nordirland-Frage. Die derzeitige Lösung bedeute „jetzt schon eine Spaltung“, da Nordirland einen Sonderstatus erhält, der es näher bei der EU belässt als andere Teile des Vereinigten Königreichs. Wenn auch die Schotten mit solchen Wünschen kämen, dann liege bald das „ganze Vereinigte Königreich in Scherben“, sagte Sinn.
Das mögliche Entstehen einer harten Grenze – die ja mit der derzeitigen Auffanglösung verhindert werden soll – schildert Sinn min drastischen Worten: „Der erste Zöllner, denn man da hinstellt, der wird ja von der IRA erschossen.“
Dass Blümel daraufhin beruhigte, und das Kleinwalsertal als funktionierendes Beispiel nannte, weil es aufgrund seiner besonderen geografischen Lage einige Sonderrechte genießt, wirkte dann ein bisschen weit hergeholt. Von einem drohenden Bürgerkrieg hat man in dem beschaulichen Vorarlberger Tal wohl tatsächlich noch nichts gehört.
Melanie Sully, britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance, erweiterte das Nordirland-Problem um eine weitere Facette: Die gesamte Auffanglösung könne das Vereinigte Königreich nur im Einvernehmen mit der EU beenden. Das wurme die Briten besonders, weil es "einzigartig in der Verfassungsgeschichte Großbritanniens" sei. Daher würden manche Abgeordnete gegenüber dem May-Deal sogar einen Verbleib in der EU vorziehen.
Wunschkonzert der Europäer
Auch "die Franzosen mit ihrer Fischereipolitik" und die Gibraltar-Frage ließen bei den Briten die Alarmglocken schrillen, erklärt Sully. Bisher sei von der EU-Kommission alles sehr diszipliniert abgehandelt worden, aber wenn Artikel 50 abgehakt ist, dann kämen all die europäischen Staaten "mit ihrem Wunschkonzert".
Hans-Werner Sinn ging noch weiter. "Wenn wir alle noch halbwegs bei Verstand sind, müssen wir jetzt die Notbremse ziehen und verhindern, dass es überhaupt zum Austritt kommt.“ Die voraussichtliche Ablehnung des Papiers im britischen Unterhaus biete eine „Chance, in letzter Sekunde zur Vernunft zu kommen“.
Dieser Meinung konnten sich die Runde durchaus anschließen, mit der nächsten These Sinns hatte aber vor allem die ORF-London-Korrespondentin Cornelia Primosch ihre Probleme.
Video: Die ganze Sendung zum Nachschauen:
IM ZENTRUM: Brexit: ziemlich beste Scheidung?
Sinn wies darauf hin, dass seiner Meinung nach starke Wirtschaftsnationen wie Österreich und Deutschland die großen Verlierer des Brexit seien. Nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft der Briten habe man sich „prächtig entwickelt“. Der Commonwealth und sein de-Facto-Freihandel hätte eine Art „Schutzschild“ gebildet, während nach einem Brexit protektionistische Strömungen Platz greifen könnten.
Primosch konnte dem gar nicht zustimmen, die Commonwealth-Nationen seien stark durch die Kolonialgeschichte geprägt und hätten viele Vorbehalte gegenüber den Briten.
Woraufhin Sinn zu einem Nebenreferat ausholte, und an die Entstehung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages 1963 erinnerte. Erst nach dem Tod Charles de Gaulles (1970) habe Deutschland die Briten endlich an die EU heranführen können. Die Mitgliedschaft des relativ wirtschaftsliberalen Vereinigten Königreichs habe ein neues Gleichgewicht in der Union hergestellt. Dies könnte nun durch den Brexit wieder verloren gehen. Daher dürfe man in Wien oder in Berlin keinesfalls sagen: „Reisende soll man nicht ziehen lassen“, erklärte Sinn. So rede man in Brüssel, Paris oder Luxemburg.
Weitere Meinungsverschiedenheiten
Dann legte sich Sinn auch noch mit Blümel an. Der Ausstieg der Briten sei eine ökonomische Entscheidung, sagte der Ökonom.
Blümel: „Völlig falsch, Herr Professor. Es ist eine politische Entscheidung.“ Die EU sei eben keine reine Wirtschaftsunion.
Etwas später wurde dann in der Diskussion die Migrationsfrage als ein Hauptgrund für den Brexit besprochen. Blümel erklärte, die österreichische Ratspräsidentschaft habe daraus abgeleitet, dass der Schutz vor illegaler Migration ein Schwerpunkt sein müsse.
Primosch schränkte ein: Es sei bei der Brexit-Abstimmung 2016 nicht um die Migration aus Afrika und Asien gegangen, sondern vor allem um die Arbeitsmigration aus Osteuropa.
Dann musste sich Primosch aber wieder mit Sinn matchen. Der Ökonom plädierte dafür, dass die EU einer langjährigen britischen Forderung nachgeben sollte, um den Zugang zu Sozialleistungen im Gastland einzuschränken. Das würde auch viele Probleme in der Union lösen und Großbritannien die Entscheidung für einen Verbleib erleichtern.
Primosch konterte, das könnten die Briten selbst lösen, indem sie eine Meldepflicht einführen.
„Das ist doch nicht der Punkt“, sagte Sinn, man müsse nur fünf Jahre im Land aufhältig sein, um die vollen Sozialleistungen zu bekommen.
Nicht nur hier Kopfschütteln und Augenrollen bei Primosch, die man sonst als das stets freundliche ORF-Gesicht zum Brexit kennt.
Die strafende Union
Dann ging es wieder: Blümel vs. Sinn. Der deutsche Wissenschaftler kritisierte die Einstellung, man müsse ein austrittswilliges Land möglichst hart bestrafen, damit mögliche Nachahmer abgeschreckt werden.
Blümel: „Es kann einfach nicht sein“, dass die verbliebenen E-27 unter einem beschädigten Binnenmarkt leiden, nachdem man diesen gemeinsam aufgebaut habe.
Sinn hat mittlerweile offenbar Lust auf verbale Scharmützel bekommen und kritisiert die EU als „Umverteilungsunion“, die sich stärker auf ihre Funktion als reine Wirtschaftsunion zurückbesinnen sollte.
Jetzt redete man vollkommen aneinander vorbei. Blümel sehe das nicht so, er sei für eine „gemeinsame Union, natürlich“.
Sinn: „Das habe ich von Ihrem Kanzler immer anders gesehen.“ Eine EU, die Geldmittel von reicheren zu ärmeren Staaten verschiebe, brauche die Bestrafung des Austritts, so Sinns These zusammengefasst.
Blümel: „Absurde These …“
Sinn: „Was reden Sie denn? Denken Sie einmal darüber nach!“
Vielleicht hätte ein ordnendes Wort gut getan. Denn der 70-jährige Wissenschaftler drückte weiterhin verbal ziemlich auf die Tube.
Er geißelte anhand von Gemüse- und Hochleistungs-Staubsaugerbeispielen den Hang der EU zu übermäßiger Regulierung und versuchte dann zu erklären, dass der länderübergreifende Handel mit Emissionszertifikaten nicht zu einer Reduzierung des CO²-Ausstoßes führe.
Sinn sagte dann tatsächlich zu Kanzleramtsminister Blümel: „Verstehen Sie? - Sie verstehen nicht.“
Blümel: „Falls es irgendwer verstanden hat, was Sie gerade gesagt haben - insgesamt geht es darum die Emissionen in ganz Europa zu drücken, das kann ja nur ein gutes Ziel sein. Da muss ich Ihnen entschieden widersprechen.“
Britisches Understatement
Gut, dass mit Melanie Sully eine Expertin in der Runde saß, die britisches Understatement zeigte. Sie fiel niemandem ins Wort, aber dann, wenn sie am Wort war, formulierte sie klar und nüchtern und ließ ab und zu staubtrockenen britischen Humor einfließen. Sie sprach vom Hard Brexit als „Schmäh der Theresa May“ oder von einem Boris Johnson, der „ein bisschen passé“ ist und den Leuten inzwischen „schwer auf die Nerven“ gehe. May nehme das Thema immerhin wesentlich ernster als Johnson.
Sully sieht die Chancen auf ein zweites Referendum oder Neuwahlen gestiegen. Dass May sich nun vermehrt an die Öffentlichkeit wendet, etwa auch mit einem Brief an alle Haushalte, wertet die Politologin als Zeichen, dass May die Abstimmung im Unterhaus möglicherweise bereits aufgegeben hat und nun bereits die Zustimmung der Bevölkerung für ein allfälliges weiteres Referendum oder Neuwahlen gewinnen möchte. Erwähnt sei, dass andere Kommentatoren darin eine andere Strategie erblicken, nämlich, den Druck auf die britischen Abgeordneten zu erhöhen.
Jedenfalls habe May ihre Botschaft von „Entweder mein Deal – oder kein Deal“ geändert in die Drohung: „Entweder mein Deal – oder kein Brexit“.
Vielleicht sollten die Briten aber einfach auf jenen Londoner Buben hören, der in einem Einspielfilm sagte: „Um eine lange Story kurz zu machen: Brexit ist einfach blöd!“
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