Berlinale im Finale: Favoriten für den Goldenen Bären und "Supersex“
Die Berlinale geht am Wochenende zu Ende, und zwar ganz „ohne Glanz und Gloria“, wie sich ein Vertreter des deutschen Feuilletons beschwerte.
Was auf dem Filmfestival in Cannes undenkbar wäre, hätte in Berlin System: Ehrengäste der Filmpremieren schreiten in Sneakers und im Strickpulli über den roten Teppich.
„In Deutschland setzt man ungeniert auf Schlabberlook“, seufzte die Berliner Zeitung und zeigte vergrämt Fotos von deutschen Stars wie Nina Hoss im hellblauen Sackmantel oder Schauspielern aus dem deutschen Wettbewerbsfilm „Sterben“ – mit Ronald Zehrfeld in Jeans und Sweatshirt.
Heute, Samstag, am Abend findet die Preisverleihung des Goldenen Bären statt. Vielleicht wird es bei der Gelegenheit ja doch noch eleganter. Eine siebenköpfige, internationale Jury, die von der kenianischen Schauspielerin Lupita Nyong’o („Black Panther“ und „Wir“) angeführt wird, entscheidet über die Hauptpreise der 74. Berlinale.
Unter den Juroren sitzen auch der Regisseur Christian Petzold, der spanische Radikalfilmemacher Albert Serra oder die italienische Schauspielerin Jasmine Trinca. Letztere war während der Berlinale übrigens auch auf der Leinwand zu sehen. In der etwas holprigen Netflix-Serie „Supersex“ (abrufbar ab 6. März) spielt sie die tragische Jugendfreundin des italienischen Pornostars Rocco Siffredi, der persönlich zur Premiere in Berlin angereist kam – in Frack und Fliege.
Kindsmörderin
Wer zu den Favoriten der diesjährigen Bären-Gewinner zählt, hängt ganz davon ab, wen man fragt. Das Branchenmagazin „Screen international“ veröffentlicht traditionell einen internationalen Kritikerspiegel, in dem Noten für einzelne Wettbewerbsfilme vergeben werden. Der österreichische Beitrag „Des Teufels Bad“ von Veronika Franz und Severin Fiala über eine Kindsmörderin aus dem 18. Jahrhundert liegt auf dieser Favoritenliste ganz vorne.
Ebenfalls großer Beliebtheit erfreut sich das Porträt einer alleinstehenden, älteren Frau im Iran, die eines Tages beschließt, sich einen neuen Mann anzulachen: Sollte „My Favourite Cake“ einen Preis gewinnen, werden sich ihn die Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha nicht abholen können, denn sie dürfen den Iran nicht verlassen.
Zwischen Alltagskomik und Schicksalsschwere
Im vorderen Drittel der Kritikergunst tummelt sich auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Sterben“ von Matthias Glasner. Getragen von starken Schauspielern, baut Glasner eine radikale Familienaufstellung um einen sterbenden Vater, eine inkontinente Mutter und zwei haltlose, erwachsene Kinder.
Sohn Tom, unwiderstehlich (und manchmal eitel) gespielt von Lars Eidinger, ist Dirigent und studiert ein Stück namens „Sterben“ ein. Dazwischen kümmert er sich um seine Ex-Freundin, die gerade ein Kind bekommen hat, und hält die kranke Mutter und den dementen Vater auf Armlänge. Der Eiertanz zwischen Karrierestress, kompliziertem Privatleben und schlechten Gewissen wird von Glasner anfänglich souverän ausbalanciert und pendelt zwischen Alltagskomik und Schicksalsschwere.
Mit der Faust in den Kirschkuchen
Doch dann erzählt die Mutter – die treffliche Corinna Harfouch – ihrem Sohn Tom, dass sie ihn nie geliebt hat. Tom kann dieses Kompliment nur zurückgeben und schlägt mit der Faust in den Kirschkuchen. Ab da wirds krass. Den dritten Akt seiner überhitzten Beziehungsdiagnose widmet Glasner der Tochter des Hauses, exzessiv gespielt von Lilith Stangenberg als Alkoholikerin namens Ellen. Ellen ist Zahnarztgehilfin und reißt im Rausch schon auch mal ihrem Lover mit der Werkzeugzange ein Loch ins Gebiss. Oder übergibt sich lautstark in der Konzertpremiere ihres Bruders.
An dieser Stelle entgleist Glasners Drama ins Groteske und findet nicht mehr zurück in die Spur des ernst zu nehmenden Erzählens. Zumindest eines aber kann man ihm nicht vorwerfen: Auch bei einer Länge von drei Stunden wird „Sterben“ nie langweilig.
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