International stieß die Entscheidung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth für einen Führungswechsel auch mitunter auf Kritik. In einem offenen Brief im September 2023 protestierten namhafte Filmschaffende gegen den Umgang mit dem künstlerischen Berlinale-Leiter, darunter auch US-Regisseur Martin Scorsese. Er war einer der Star-Gäste von Carlo Chatrians Abschiedsberlinale, nahm gerührt den Ehrenbären für sein Lebenswerk entgegen und kündigte trotz seiner 81 Jahre an, weitere Filme drehen zu wollen.
Vergangenheit bewältigen
Der ewige Wunsch des deutschen Filmfestivals, endlich an die Bedeutung von Cannes und Venedig aufschließen zu können, will sich weiterhin nicht so recht erfüllen. Auch der letzte, von Chatrian programmierte Wettbewerb, endete nicht mit dem erhofften, großen Paukenschlag, sondern glänzte mit durchwachsener Qualität. Zu den Highlights zählte der österreichische Beitrag „Des Teufels Bad“, ein packend erzähltes Drama um eine depressive Frau im 18. Jahrhundert.
Zugute halten lässt sich dem Programm, das sich im Wettlauf um den Goldenen Bären eine große Bandbreite von Filmen fand, deren Vielfalt vom „klassischen“ Erzählkino bis hin zum experimentellen Essayfilm reichte.
So rekonstruierte etwa der deutsche Parade-Regisseur Andreas Dresen in seiner Vergangenheitsbewältigung „In Liebe, Eure Hilde“ das Schicksal einer jungen Frau unter Nazi-Herrschaft als konventionellen, aber berührenden Spielfilm mit gediegenen Rückblenden.
Mati Diop hingegen, eine französische Regisseurin mit senegalesischen Wurzeln, nimmt bei ihrem Blick in die Kolonialgeschichte die Perspektive einer geplünderten Kriegerfigur aus dem Benin ein. In ihrer Raubkunst-Doku „Dahomey“ folgt die Filmemacherin der Rückführung von 26 Kunstschätzen in den Benin, die von den Franzosen während der Kolonialzeit gestohlen worden waren. Diop gibt der geraubten Königsstatue eine eigene, magische Stimme, mit der sie ihr Schicksal erzählen kann.
Einen noch ungewöhnlicheren Ich-Erzähler als Diop fand der dominikanische Regisseur Nelson Carlos de los Santos Arias in seiner Kolonialismusanalyse „Pepe“: Ausgerechnet in der Stunde seines Todes lernt ein Nilpferd namens Pepe sprechen – und erzählt sein Schicksal in gleich mehreren Sprachen.
Pepe stammte ursprünglich aus Südwestafrika, wurde gefangen genommen und nach Kolumbien verschleppt, wo es in den Besitz von Drogenboss Pablo Escobar geriet. Als dessen Schreckensreich zerbrach, vermehrten sich die Tiere und wurden zum Problem für die kolumbianische Bevölkerung. Als hypnotische Dokufiktion, die auf verschlungenen Erzählpfaden wandelt und mehrfach ihr Format wechselt, fordert „Pepe“ Sehgewohnheiten heraus und lässt Logik zugunsten von Materialfülle fallen.
Mütter und Söhne
Geradlinig hingegen folgte der Däne Gustav Möller in „Vogten“ den Arbeitsabläufen einer Gefängniswärterin namens Eva, verkörpert von „Borgen“-Star Sidse Babett Knudsen. Als ein neuer Häftling aufgenommen wird, erkennt Eva in ihm den Mörder ihres Sohnes und sinnt auf Rache. Doch auch Evas Sohn war kriminell, sie selbst eine Mutter, die mit dem eigenen Kind nicht umgehen konnte.
Das Motiv einer Frau, die mit gewalttätigen Söhnen konfrontiert wird, findet sich spannender zugespitzt in dem Regiedebüt „Who Do I Belong To“ der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Jaobeur. Sie erzählt von Aïcha, einer Mutter, deren Söhne als IS-Kämpfer in den Irak gezogen sind. Als einer der Söhne seiner Mutter von begangenen Gewalttaten erzählt, vermischen sich traumatische Erfahrungen in Aïchas Vorstellungswelt zu albtraumartigen Fantasiebildern.
Russische Telefonate
Einer der gravierendsten Filme der diesjährigen Berlinale fand sich in der Sektion Forum: In ihrer Doku „Intercepted“ verwendet die ukrainisch-kanadische Filmemacherin Oksana Karpovych Telefongespräche von russischen Soldaten mit ihren Familien, die der ukrainische Geheimdienst abgehört hat. Dazu zeigt sie Bilder von ausgebombten ukrainischen Häusern und zerstörten Landschaften. Die Soldaten erzählen ungebremst von Plünderungen, Folterungen und Vergewaltigungen – und ihre Mütter, Frauen und Freundinnen hören ungerührt zu. Als Publikum bleibt man sprachlos zurück.
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