Jury-Vorsitzender Hubert Winkels urteilte harsch: Der Text sei „desorganisiert und grotesk falsch“.
Die zweite Lesung bestritt die deutsche Autorin Lisa Krusche. Ihre Geschichte um eine Judith, die offenbar als einzige eine Weltkatastrophe überlebt hat, springt von der griechischen Mythologie in eine Computerspielwelt und wieder zurück, verwendet Begriffe wie „nice“, „weird“ und „creepy“ sowie gewagte Metaphern wie „Deine Abwesenheit knallt rein wie eine Supernova“.
Bei der Jurydebatte setzte sich der sehr amüsante Ringkampf zwischen Klaus Kastberger, der den Text ausgesucht hatte, und Philipp Tingler fort. Tingler stieß sich am Lob seiner Kollegen (Verweise auf Ovid!) für den Text und sah die Diskussion an der „Grenze zur Selbstparodie“.
Kastberger konterte: „Offenbar hat man in der Schweiz Mühe, sich eine dystopische Zukunft vorzustellen.“ Tingler: „Der Text interessiert mich nicht.“ Kastberger: „Wir halten fest, alles, was ich sage, sieht Herr Tingler nicht so.“ Tingler: „Nein, ich sehe eine gute gemeinsame Zukunft.“ Großes Spontan-Kabarett!
Esel und Ovid
Danach las der deutsche Autor Konrad Hieronymi eine in lässigem Tonfall verfasste Erzählung über eine groteske Reise nach Rumänien, in der das Grab Ovids, ein hungriger Esel und Hermann Hesses Enkel wichtige Rollen spielen.
Bei der Diskussion kündigte Philipp Tingler an, künftig nur noch „mit Vogelstimmchen“ zu sprechen, was er zum Glück nicht durchhielt. Er nannte den Text „redselig und altklug“.
Klaus Kastberger antwortete: „Ich bin zu 99 Prozent der Meinung von Philipp Tingler.“ Tingler: „Oh Gott!“ Kastberger befand: „Je länger die Diskussion dauert, umso schlechter wird der Text.“ (Sie dauerte lang.)
Insa Wilke und Michael Wiederstein, der den Autor eingeladen hatte, lobten den Text als „sehr, sehr gut gebaut“. Hubert Winkels dagegen rügte den Autor für seine „ungehobelte Prosa“ – und lieferte schließlich einen schönen philosophischen Gedanken: „Ein Trottel ist ein Trottel ist ein Trottel.“
Nach der Pause kam die erste Autorin aus Österreich dran: Carolina Schutti las einen Text, der, durch Wiederholungen gekennzeichnet, vom Alltag einer Frau in einer Nervenheilanstalt erzählte (und den schönen Konjunktiv „tröge ich“ beinhaltete).
Die Jury lobte den eindringlichen Vortrag und rang um eine Bewertung. Das machte einen Juror wütend. Und zwar, richtig, Philipp Tingler: „Alle sagen, oh, das ist innerlich einfühlsam ... Ich möchte Textarbeit betreiben!“ Ergebnis dieser Arbeit: Tingler sieht in der Geschichte ein „veraltetes, akademisches Literaturmodell“ mit „rezeptartigen Zutaten“.
Klaus Kastberger stimmte Tingler – ja, wirklich! – zu: Der Text mache ihn nervös, sei „zu langsam“ und arbeite „mit langweiligen Mitteln“. Insa Wilke dagegen sah eine „ästhetische Selbstermächtigung“. Michael Wiederstein war „positiv überrascht“. Brigitte Schwens-Harrant, die die Autorin eingeladen hatte, lobte die „poetische“ Machart – „sie lässt mich atmen“.
Jury über Jury
An dieser Stelle kam dann die schon obligatorische Debatte, ob die Jury die Jury kritisieren darf. Alle waren sich einig: Ja, sie darf.
Der Österreicher Jörg Piringer beendete den ersten Lesetag. Der Experte für Neue Medien und Internet-Kunst las eine Erzählung über einen Web-Programmierer, der ein selbsttätiges Schreibsystem erfindet.
Die Folge war eine sehr spannende Diskussion der Jury über die Frage, wie kreativ künstliche Intelligenz sein kann. Und er funktionierte auch als schönes Bild für die Veranstaltung selbst – sind doch Autoren und Jury heuer quasi Avatare ihrer selbst. An der Diskussion nahm auch der Autor teil, der auf Nachfrage bestätigte, dass Teile seines Textes „von der Maschine“ geschrieben wurden.
Michael Wiederstein lobte, dass die Erzählung „Sprache als Waffe“ thematisiert – „es geht darum, die Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen mit Sprache“. Klaus Kastberger empfand den Text als „interessante Nachmittagsunterhaltung“.
Philipp Tingler war, Überraschung, dennoch „ein wenig enttäuscht“.
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