Ein besseres Timing hätte man dafür nur schwer finden können. Denn oft nimmt man die verstörende Kraft großer Literatur erst so richtig wahr, wenn eintritt, was diese längst vorweggenommen hat. Das manifestierte sich an diesen beiden Festival-Tagen bei den Lesungen von Elisabeth Ort, Jan Bülow, Bibiana Beglau und Peter Stephan Jungk und Bettina Hering, der Dramaturgin des Festivals, um nur einige zu nennen, die Sorokins schonungslose Prosa vortrugen.
Wie Sorokin wurde, was er heute ist, wie er aus der Moskauer Untergrund-Literatur-Szene zum gefragtesten Schriftsteller avancierte, dokumentierte Dirk Uffelmann, Literaturwissenschafter und Verfasser von „Vladimir Sorokins Diskurse. Ein Handbuch“. Sorokins Wandel vom apolitischen Künstler zum politischen Autor und Bürger fiele in die Zeit des ersten Jahrzehnts von Putins-Regentschaft, erklärte Uffelmann. 2000 verschaffte dem Autor seine surreale Satire „Der himmelblaue Speck“ über eine Zeitreise an den Obersalzberg, wo Hitler und Stalin dinieren, den Durchbruch als Schriftsteller.
2006 veröffentlichen elf Verlage in Europa gleichzeitig den Roman „Der Tag des Opritschniks“. Ein schonungsloser Ausblick auf ein fiktives Russland im Jahr 2027, das dem realen gar nicht so unähnlich ist. Der Gossudar lässt im isolierten Staat jeden vernichten, der sich seinen Anordnungen widersetzt. Oligarchen werden gefoltert und gehängt, deren Frauen vergewaltigt, die Kinder in Waisenhäusern zu braven Bürgern umerzogen. Spätestens mit diesem Roman war Sorokin für die Welt zum Inbegriff des russischen Widerstands geworden.
Im Gespräch mit Bettina Hering meinte Sorokin: Russland sei ein Eldorado für einen Schriftsteller, da gebe es eine Konzentration des Grotesken, und Putins Präsenz sei eine tägliche Steigerung des Grotesken. „Eine Supergroteske, stärker und erschreckender als jede Satire“. Daher sei es unmöglich geworden, über ihn zu schreiben. „Wenn Krieg ist, bleibt die Literatur stumm. Man kann gar nicht beschreiben, was passiert, schon morgen ist alles anders. In solchen Zeiten ist die relevanteste das Fernsehen“, beschreibt er seine aktuelle schriftstellerische Situation.
Das heutige Russland verglich er mit einer Schallplatte, die immer das gleiche sowjetische Lied spielt: „Das ist keine Musik mehr, das ist ein Kratzen und Quietschen. Allen ist klar, dass man warten muss, bis die Nadel endlich abbricht oder das Grammophon kaputt wird“, beschreibt er das Land seiner Geburt. Und zur Cancel Culture meint er: „Aggression wird auch auf die Kultur übertragen. Nach Ausbruch des Kriegs sah ich auf Facebook ein Foto, auf dem ein Porträt Puschkins auf einer Müllhalde deponiert war. Die Ukrainer haben jedes Recht dazu. Ich kann den Hass auf alles Russischsprachige verstehen. Wir alle tragen die Verantwortung dafür.“
Und er erinnert, dass es das alles auch im Zweiten Weltkrieg in Bezug auf Deutschland gegeben habe. Wie zur Beruhigung fügt er hinzu: „In den USA sind nach wie vor Werke von Dostojewski und Tolstoi zu finden.“
Auch seine werden demnächst in den USA zu haben sein. Im Grunde sei es aber nicht wichtig, ob ein Schriftsteller österreichisch oder russisch ist, wichtig sei, dass er metaphysische Fragen stelle, sagte er im Gespräch mit Dirk Uffelmann.
Noch etwas: „Vieles löst sich auf den Schlachtfeldern der Ukraine. Wir alle warten auf den Sieg der Ukraine, und danach können wir diesen Krieg beschreiben.“
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